I. Arbeitslosenversicherung
1. Die Anwendbarkeit der Nahtlosigkeitsregelung entfällt mit der positiven Feststellung der Erwerbsminderung unabhängig davon, ob zuvor von dem Rentenversicherungsträger eine Erwerbsminderung verneint worden ist. Widersprüchliche Feststellungen des Rentenversicherungsträgers sind insofern unbeachtlich. Die positive Feststellung führt nicht automatisch zum Entfallen des Anspruches auf Arbeitslosengeld. Die Agentur für Arbeit ist gehalten, das Leistungsvermögen selbst zu ermitteln und festzustellen. Diese Feststellung ist, wie auch die anderen Tatbestandsmerkmale des § 138 SGB III, gerichtlich voll überprüfbar (Gerichtsbescheid vom 29.04.2022, S 16 AL 285/19 – in Berufung L 8 AL 1528/22).
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Arbeitslosengeld. Die Klägerin beantragte am 23.03.2017 bei dem für sie zuständigen Rentenversicherungsträger Rente wegen Erwerbsminderung. Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 22.12.2017 abgelehnt, da die Klägerin Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von mindestens sechs Stunden täglich ausüben könne. Am 12.07.2018 beantragte die Klägerin beim Rentenversicherungsträger Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Diese wurden mit der Begründung abgelehnt, dass die Klägerin voll erwerbsgemindert sei. Darüber wurde die Beklagte mit Schreiben vom 29.08.2018 in Kenntnis gesetzt. Am 17.08.2018 meldete sich die Klägerin bei der Beklagten arbeitslos und beantragte die Gewährung von Arbeitslosengeld. Die Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass der Rentenversicherungsträger bei der Klägerin die volle Erwerbsunfähigkeit festgestellt habe.
Dagegen hat die Klägerin Klage erhoben. Es lägen widersprüchliche Aussagen der unterschiedlichen Abteilungen der Rentenversicherung vor. Dies dürfe nicht zu ihren Lasten gehen. Allein maßgeblich müsse die Abteilung sein, die für die Gewährung der Rente zuständig sei.
Das Gericht hat der Klage stattgegeben. Die Nahtlosigkeitsregelung des § 145 SGB III sei vorliegend nicht anwendbar, da der Rentenversicherungsträger bereits vor Entstehung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld die vollständige Erwerbsminderung mit Schreiben vom 29.08.2018 festgestellt habe. In der Mitteilung des Rentenversicherungsträgers vom 29.08.2018 liege eine positive Feststellung der Erwerbsminderung, unabhängig davon, dass Monate zuvor, nämlich am 22.12.2017, Erwerbsminderungsrente abgelehnt worden sei. Die positive Feststellung führe nicht automatisch zum Entfallen des Anspruches auf Arbeitslosengeld. Die Beklagte sei daher gehalten gewesen, die Gewährung von Arbeitslosengeld selbst zu ermitteln und festzustellen. Diese Feststellung sei, wie auch die anderen Tatbestandsmerkmale des § 138 SGB III, gerichtlich voll überprüfbar. Nach den Feststellungen des Gerichts sei die Klägerin in der Lage, 15 Stunden oder mehr wöchentlich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig zu sein.
2. Der Ausschluss von Verwandten ersten Grades von einer Förderung im Rahmen des Bundesprogramms „Ausbildungsplätze sichern“ nach Ziffer 2.6 der Ersten Förderrichtlinie für das Bundesprogramm Ausbildungsplätze sichern verstößt weder gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG noch gegen den in Art. 6 Abs. 1 GG verankerten besonderen Schutz von Ehe und Familie (Urteil vom 04.05.2021 - S 3 AL 2561/21).
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Ausbildungsprämie nach dem Bundesprogramm „Ausbildungsplätze sichern“ für Berufsausbildungen mit Ausbildungsbeginn ab dem 01.06.2021. Die Klägerin, die zugleich Inhaberin des Ausbildungsbetriebes war, beantragte die Gewährung der Prämie für die Einstellung ihrer Tochter als Auszubildende. Die Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass die Auszubildende als Tochter der Betriebsinhaberin von der Förderung ausgeschlossen sei. Die Klägerin vertrat die Auffassung, dass die maßgebliche Ausschlussregelung gegen Art. 6 und Art. 3 des Grundgesetzes verstoße.
3. Eine private Fahrt unter Cannabis-Einfluss, welche zum vorübergehenden Verlust der Fahrerlaubnis führt, rechtfertigt bei einem Berufskraftfahrer die Verhängung einer zwölfwöchigen Sperrzeit durch die Bundesagentur für Arbeit, wenn dieser hierdurch seinen Arbeitsplatz verliert und im Anschluss Arbeitslosengeld beantragt (Urteil vom 26.01.2022, S 6 AL 5194/20, rechtskräftig).
Der Kläger wandte sich gegen die Verhängung einer zwölfwöchigen Sperrzeit durch die beklagte Agentur für Arbeit. Er war als Kraftfahrer der Klasse CE beschäftigt gewesen. Nachdem sein Arbeitgeber ihm gekündigt hatte, weil er mit einem einmonatigen Fahrverbot belegt worden war, nachdem bei einer Verkehrskontrolle bei einer privaten Fahrt festgestellt worden war, dass er unter dem Einfluss von Cannabis gestanden hatte, beantragte er bei der Beklagten die Gewährung von Arbeitslosengeld. Diese verhängte eine zwölfwöchige Sperrzeit.
Die dagegen gerichtete Klage wurde abgewiesen, denn der Kläger habe durch sein Verhalten die Kündigung und damit seine darauffolgende Arbeitslosigkeit grob fahrlässig verursacht. Der Besitz der Fahrerlaubnis sei unabdingbare Voraussetzung für die Tätigkeit als Kraftfahrer. Der Kläger habe deshalb arbeitsvertraglich alles zu unterlassen gehabt, was zum Entzug der Fahrerlaubnis führen könne, wozu auch der Nichtverlust der Fahrerlaubnis während der Freizeit gehöre. Die Annahme einer solchen arbeitsvertraglichen (Neben)Pflicht enthalte keine unangemessene und unverhältnismäßige Einwirkung des Arbeitsrechts auf die private Lebensgestaltung von Arbeitnehmern (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 25.02.2011, L 8 AL 3458/10; BSG, Urteil vom 06.03.2003, B 11 AL 69/02 R.). Es entspreche zudem auch der ständigen Rechtsprechung des BSG, welcher sich die Kammer anschließe, dass eine private Trunkenheitsfahrt und entsprechend eine Fahrt unter Drogeneinfluss, die zum Verlust der Fahrerlaubnis und zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber führe, eine Verletzung des Arbeitsvertrages enthalten könne (Urteil vom 25.08.1981, 7 RAr 44/80; Urteil vom 06.03.2003 a.a.O.). Eine angeblich zugesagte Weiterbeschäftigungsmöglichkeit im Unternehmen habe der Kläger nicht beweisen können.
II. Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Bezieher von Leistungen nach dem SGB II haben keinen Anspruch auf einen Therapiehund und die damit verbundenen Kosten aufgrund der sozialen Folgen der Coronapandemie (Beschluss vom 02.05.2022 - S 15 AS 1258/22 ER).
Der Antragsteller begehrte im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens die Übernahme von Kosten i.H.v. 2.000,00 € für die Anschaffung eines Therapiehundes sowie die Übernahme von monatlich 200,00 € für Futter, medizinische Grundversorgung, Versicherung und Steuer. Zur Begründung führte er aus, die ständigen Lockdowns, Ausgangssperren und fehlenden soziokulturellen Angebote während der Coronapandemie hätten ihn so stark isoliert, dass er einen seelischen Schaden davongetragen habe. Er wolle in einer selbstbestimmten Tier-Therapie diese Schäden kompensieren und heilen.
Das Gericht lehnte den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz mangels Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch ab. Seit dem 01.04.2022 seien die in Baden-Württemberg geltenden Beschränkungen aufgrund der Coronapandemie nahezu aufgehoben worden. An dem öffentlichen Leben könne seitdem wieder weitestgehend in normalen Maß teilgenommen werden. Der Antragsteller könne daher auch ohne Therapiehund Tagesstrukturen entwickeln und soziale Kontakte pflegen. Im Übrigen war für die Kammer bereits keine Anspruchsgrundlage ersichtlich, aus der sich ein Anspruch des Antragstellers hätte ergeben können.
2. Arbeitslosengeld II-Bezieher haben keinen Anspruch auf eine monatliche Erhöhung des Regelbedarfs um 150,00 € bis 250,00 € (Beschluss vom 06.05.2022 - S 15 AS 1410/22 ER).
Der Antragsteller begehrte im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens die monatliche Anhebung des Regelbedarfs um 150,00 € - 250,00 €. Zur Begründung führte er aus, er befinde sich in einer Notsituation. Die Antragsgegnerin habe auf die pandemie- und kriegsbedingte Preiserhöhung seit April 2020 nicht reagiert. Die seit Beginn der Pandemie angefallenen Kosten beliefen sich bei dem Antragsteller auf weit über 2.000,00 €. Ferner seien die Lebensmittelpreise aufgrund des Krieges exponentiell in die Höhe gegangen.
Das Gericht lehnte den Antrag ab. Das dem Antragsteller monatlich gewährte Arbeitslosengeld II sei unter Berücksichtigung des gesetzlichen Regelbedarfs von 449,00 € nach Regelbedarfsstufe 1 sowie der tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung ermittelt worden. Ein wie vom Antragsteller mitgeteilter Anstieg der Lebensmittelpreise liege nach Ansicht der Kammer nicht vor. Im Übrigen seien die Maßstäbe zur Bemessung der Regelbedarfe der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundessozialgerichts zur Regelbedarfsermittlung nachgebildet worden und mit dem Grundgesetz vereinbar.
III. Rentenversicherung
1. § 51 Abs. 2 a. E. SGB I ist nicht auf diejenigen Deutschen analog anzuwenden, die in einem Land leben, in dem keine der Sozialhilfe entsprechende Leistung vorgesehen ist. Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 12. April 1995 – 5 RJ 12/94 steht dem nicht entgegen (Urteil vom 20.09.2021, S 16 R 3395/18 – rechtskräftig).
Der Kläger wehrt sich mit der Klage gegen die Verrechnung rückständiger Beitragsforderungen der Krankenkasse mit seiner anteiligen Regelaltersrente. Im Land des Wohnsitzes des Klägers, den Philippinen, gibt es keine der Sozialhilfe entsprechenden Leistungen.
Das Gericht hat die Klage abgewiesen. Die Beklagte habe mit der laufenden Rente ohne Feststellung der Hilfebedürftigkeit aufrechnen dürfen. § 51 Abs. 2 a. E. SGB I sei für den Kläger, der im Ausland wohne, nicht anwendbar, da er nicht hilfebedürftig im Sinne der Vorschriften des SGB XII oder SGB II sein könne. Ebenso sei eine analoge Anwendung für diejenigen Deutschen abzulehnen, die in einem Land lebten, in dem keine Sozialhilfe vorgesehen sei, wie dies bei dem Kläger der Fall sei. Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 12.04.1995 zum Aktenzeichen 5 RJ 12/94 stehe dem nicht entgegen.
2. Ist eine Befreiung von der Rentenversicherungspflicht für eine Tätigkeit als Syndikusanwalt nach dem 01.01.2016 erteilt worden, so ist eine vorherige Pflichtmitgliedschaft in einem berufsständischen Versorgungswerk nicht Voraussetzung für einen Anspruch auf rückwirkende Befreiung von der Rentenversicherungspflicht gemäß § 231 Abs. 4b Satz 1 SGB VI für die zurückliegende Zeit der aktuell ausgeübten Beschäftigung (Urteil vom 09.12.2021 - S 11 R 152/18, Berufung anhängig).
Zwischen den Beteiligten war die rückwirkende Befreiung der Klägerin von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung streitig. Die Beklagte befreite die Klägerin für die Zeit ab der Zulassung als Rechtsanwältin (Syndikusrechtsanwältin) durch die Rechtsanwaltskammer von der Rentenversicherungspflicht und lehnte die rückwirkende Befreiung von der Rentenversicherungspflicht für die Zeit ab Beginn der Tätigkeit ab, da zuvor keine Pflichtmitgliedschaft im berufsständischen Versorgungswerk bestanden habe. Die Klägerin führte zur Begründung aus, dass eine Pflichtmitgliedschaft in einem berufsständischen Versorgungswerk nach dem Gesetzeswortlaut des § 231 Abs. 4b Satz 1 SGB VI nicht Voraussetzung sei.
Die Kammer hat der Klage stattgegeben und sich der Rechtsprechung des BSG angeschlossen, wonach § 231 Abs. 4b Satz 1 SGB VI keine durch eine Pflichtmitgliedschaft in einer Rechtsanwaltskammer bedingte Pflichtmitgliedschaft in einem Versorgungswerk erfordere (vgl. BSG, Urteil vom 26. Februar 2020 – B 5 RE 2/19 R). Soweit die Beklagte meint, dass ein Bezug zum Versorgungswerk für die streitige Rückwirkung der Befreiung von der Rentenversicherungspflicht erforderlich sei, werde dieser Bezug nach Auffassung der Kammer bereits durch die erfolgte Zulassung der Klägerin als Syndikusrechtsanwältin hinreichend hergestellt. Dies entspreche auch dem Sinn und Zweck der Regelung. In diesem Zusammenhang sollte nach der Intention des Gesetzgebers durch Einräumung eines rückwirkenden Befreiungsrechts für diejenigen, die nach der geänderten BRAO als Syndikusrechtsanwälte oder nach der geänderten PAO als Syndikuspatentanwälte zugelassen und von der Versicherungspflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung befreit werden können, auch für die Vergangenheit der Status quo hergestellt werden (vgl. BT-Drucksache 18/5201, Seite 22). Dieser Zielsetzung entspreche es, wenn eine Beschäftigung, für die unter der Geltung dieses neuen Rechts eine Befreiung von der Rentenversicherungspflicht ausgesprochen werde, von ihrem Beginn an keine Pflichtversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung auslöse (vgl. BSG, Urteil vom 26. Februar 2020 – B 5 RE 2/19 R).
3. Sind Beitragserstattungsakten der Rechtsvorgängerin der Beklagten nach Ablauf der gesetzlichen Aufbewahrungsfrist vernichtet worden, ist es dem Gericht trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht möglich, weitere Feststellungen zu treffen. In diesem Fall gilt sodann der Grundsatz, dass jeder im Rahmen des anzuwendenden materiellen Rechts die Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen (vgl. Grundsatz der sog. „objektiven Beweislast“). Insbesondere muss der Versicherte Beitragszahlungen nachweisen beim Fehlen von Unterlagen. Jedoch trifft den Versicherungsträger grundsätzlich die Beweislast für tatsächliche Auszahlung einer Beitragserstattung. In diesem Rahmen ist jedoch nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung, der die Kammer hier folgt, der Beweis des ersten Anscheins zulässig. Nach der Rechtsprechung kann aus dem Inhalt von Sammelkarten, Beitragserstattungslisten sowie sonstigen noch vorhandenen und auf den Namen der Berechtigten lautenden Verwaltungsunterlagen die auf Lebenserfahrung sowie dem Grundsatz der Ordnungsmäßigkeit der Verwaltung beruhende, jedoch widerlegbare Vermutung begründet werden, dass die Beitragserstattung tatsächlich wirksam erfolgt ist. Die Beweisregel des ersten Anscheins besagt, dass bei typischen Geschehensabläufen auf eine Tatsache geschlossen werden kann, die nach der allgemeinen Lebenserfahrung regelmäßig Folge eines solchen Geschehensablaufs ist. Dabei wird der Vollbeweis einer Tatsache vermutet, solange nicht Tatsachen erwiesen sind, die den vermuteten typischen Geschehensablauf in Zweifel ziehen. Durch das bloße Bestreiten wird der Anscheinsbeweis nicht erschüttert (Gerichtsbescheid vom 27.04.2022 - S 22 R 833/22, nicht rechtskräftig).
4. Eine psychische Erkrankung hat erst dann rentenrechtliche Relevanz, wenn alle Behandlungsoptionen ausgeschöpft wurden. Dies ist nicht der Fall, wenn eine muttersprachliche Psychotherapie trotz Verständigungsproblemen in der deutschen Sprache nicht durchgeführt wird, es aber Anhaltspunkte gibt, dass eine solche erfolgversprechend ist (Gerichtsbescheid vom 16.05.2022 - S 7 R 3778/19, noch nicht rechtskräftig).
Die Klägerin begehrt eine Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, unter anderem wegen einer chronifizierten depressiven Störung, einer somatoformen Schmerzstörung sowie einer Persönlichkeitsänderung bei chronischen Schmerzsyndrom. Sie befand sich in deutschsprachiger psychotherapeutischer Behandlung. Eine muttersprachliche Psychotherapie wurde nicht durchgeführt.
Die Kammer hat die Klage abgewiesen. Unter anderem habe sich aus der Verwaltungsakte sowie den sachverständigen Zeugenaussagen der behandelnden Ärzte der Klägerin ergeben, dass diese Probleme bei der Verständigung in der deutschen Sprache habe. Aus einem ärztlichen Rehabilitationsentlassungsbericht gehe jedoch hervor, dass die dort absolvierte muttersprachliche Psychotherapie der Klägerin zu einer sehr guten psychischen und körperlichen Stabilisierung und Verbesserung der Symptomatik verholfen habe. Insbesondere habe ihre Stimmungslage stabilisiert und deutlich verbessert werden können. Bei Entlassung habe eine deutliche Verringerung der zu Beginn bestehenden psychovegetativen Spannungszustände sowie der depressiven Symptomatik erreicht werden können. Diese muttersprachliche Psychotherapie sei in der Folge nicht fortgesetzt worden. Somit gelangte die Kammer zu der Ansicht, dass die Behandlungsoptionen der Klägerin vorliegend noch nicht ausgeschöpft seien, da die Psychotherapie während ihres Rehabilitationsaufenthaltes gezeigt habe, dass sie mit muttersprachlicher therapeutischer Hilfe ihre psychischen Einschränkungen verringern könne.
5. Zur statusrechtlichen Beurteilung der Versicherungspflicht für eine Tätigkeit als Musiklehrer, hier: selbständige Tätigkeit (Urteil vom 08.07.2021 - 25 R 4587/17).
Die Beteiligten stritten im Rahmen eines Statusfeststellungsverfahrens nach § 7a (SGB IV) darüber, ob der Beigeladene zu 1. in seiner Tätigkeit als Musiklehrer der Versicherungspflicht in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung unterlag.
Die Kammer hob in ihrer Entscheidung die streitgegenständlichen Bescheide auf und stellte fest, dass der Beigeladene zu 1. in der Tätigkeit als Musiklehrer selbständig tätig war und keine Versicherungspflicht für diese Tätigkeit in den Zweigen der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung bestand. In den Urteilsgründen hob die Kammer hervor, dass das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 14.03.2018 (Az.: B 12 R 3/17 R), der sich die Kammer anschloss, unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) dargelegt habe, dass zwingendes Recht einer Qualifizierung der Vertragsverhältnisse von Musikschullehrern als freie Dienstverträge nicht entgegenstehe. Im Gegenteil nehme die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung an, dass Lehrer an Musikschulen nur dann als Arbeitnehmer anzusehen seien, wenn die Parteien dies vereinbart hätten oder im Einzelfall festzustellende Umstände hinzuträten, aus denen sich ergebe, dass der für das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses erforderliche Grad der persönlichen Abhängigkeit gegeben sei. Im hier zu entscheidenden Rechtsstreit hätten die zwischen der Klägerin und dem Beigeladenen zu 1. abgeschlossenen schriftlichen Vereinbarungen, aber auch die tatsächliche Durchführung im Rahmen einer Gesamtbetrachtung und Würdigung aller Umstände mit dem übereinstimmenden Willen der Vertragsparteien, ein freies Dienstverhältnis zu begründen, nicht im Widerspruch gestanden.
6. Ein Event-Caterer, der für einen Festzeltbetreiber als Leiter und Organisator des Küchenbetriebes während eines Volksfestes im Wesentlichen mit der Planung von Speisekarte, Küchenausstattung, Küchenpersonal und Einkauf sowie mit der Aufsicht über die Zubereitung der Speisen im Festzelt und der Einweisung, Überwachung und Kontrolle des Küchenpersonals betraut ist, dabei während des Festzeltbetriebes vereinbarungsgemäß größtenteils im Festzelt zugegen ist, mit den Mitarbeitern des Festzeltbetreibers im Team zusammen kocht und arbeitet und eine vertraglich vereinbarte pauschale Vergütung erhält, der eine Hochrechnung eines Stundenlohnes zugrunde liegt, ist in dieser Tätigkeit sozialversicherungspflichtig beschäftigt (Urteil vom 24.02.2022 - S 26 R 4198/19).
Der Kläger, der ein Cateringunternehmen betreibt, war nach Ansicht der beklagten Rentenversicherung für den beigeladenen Festzeltbetreiber in der beschriebenen Tätigkeit als Leiter und Organisator des Küchenbetriebes während eines Volksfestes abhängig beschäftigt tätig. Dies sowie die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung von Beginn der Tätigkeit an stellte die Beklagte im Rahmen eines Statusfeststellungsverfahrens nach § 7a SGB IV fest. Auch nach Ansicht der Kammer überwogen im Rahmen der gebotenen Gesamtschau die für eine abhängige Beschäftigung sprechenden Merkmale, weshalb die Klage abgewiesen wurde.
7. Ein sogenannter Tasting-Leiter, der in den Räumlichkeiten des Auftraggebers Spirituosen-Verkostungen durchführt, ist abhängig beschäftigt, wenn er keinen maßgeblichen Einfluss auf den Termin, den Ort, die Art der Verkostung sowie die Auswahl der präsentierten Spirituosen nehmen kann (Urteil vom 25.10.2021 - S 20 BA 6155/19).
Bei der Klägerin handelt es sich um einen Importeur von hochwertigen Spirituosen. Im Rahmen der in den Räumlichkeiten der Klägerin regelmäßig stattfindenden Spirituosen-Verkostungen bestand ein Auftragsverhältnis mit dem Beigeladenen, der nach Ansicht der Rentenversicherung in seiner Funktion als sogenannter Tasting-Leiter bei der Klägerin versicherungspflichtig beschäftigte war.
Auch nach Ansicht der Kammer überwogen im Rahmen der Gesamtwürdigung die Merkmale einer abhängigen Beschäftigung. Schon der Rahmenvertrag spreche für das Vorliegen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses. So verpflichtete sich der Beigeladene unter Punkt 6 geradezu arbeitnehmertypisch, im Falle seiner krankheitsbedingten Verhinderung eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung innerhalb von drei Tagen vorzulegen. Auch sei der Beigeladene im Rahmen der Durchführung der Verkostungen funktionsgerecht dienend in die Betriebsorganisation der Klägerin eingebunden gewesen und habe letztlich ihrem Direktions- und Weisungsrecht unterlegen, welches in dem Rahmenvertrag festgeschrieben worden sei und sich sodann im Rahmen der Verrichtung der Tätigkeit verwirklicht habe. So sei der Beigeladene verpflichtet gewesen, im Rahmen der Events die Erhebung der Kundenbewertungen mit eigens dafür zur Verfügung gestellten Tablets der Klägerin durchzuführen. Des Weiteren existierten klare Absprachen bezüglich der Vor- und Nachbereitung der Verkostungen. So habe es zu den Aufgaben des Beigeladenen gehört, vor den Verkostungen Werbemittel der Klägerin sowie Käse, Chips, Salzstangen, Wasser und Spucknäpfe in den von der Klägerin zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten zu platzieren. Zudem musste der Beigeladene die zu dem jeweiligen Event passenden Spirituosen aus dem Bestand der Klägerin für die Verkostung bereitstellen. Die Arbeitszeit des Beigeladenen habe sich nach den angebotenen Verkostungen gerichtet, welche einseitig von der Klägerin terminiert worden seien. Weder auf die Auswahl der im Rahmen der Verkostungen präsentierten Spirituosen noch auf die Art der durchzuführenden Verkostung habe der Beigeladene maßgeblichen Einfluss nehmen können. Vielmehr sei in dem Rahmenvertrag ausdrücklich vereinbart worden, dass der Termin, der Ort, die Art der Verkostung sowie die verkosteten Waren durch die Klägerin vorgegeben seien. Es sei zwar davon auszugehen, dass der Beigeladene hinsichtlich der Gestaltung und des Ablaufs der Verkostungen aufgrund seiner Kenntnisse und individuellen Fähigkeiten einen nicht unerheblichen Gestaltungsspielraum gehabt und er dadurch den Events ein stark individuelles Gepräge verliehen habe. In der modernen Arbeitswelt sei eine weitreichende Eigenständigkeit bei der Ausübung der vertraglich geschuldeten Tätigkeit jedoch eher die Regel und sei daher für sich genommen kein geeignetes Kriterium, um eine unternehmerisches Handeln zu begründen.
8. Eine Reinigungskraft kann auch dann selbständig tätig sein, wenn die Putzutensilien vom Auftraggeber bereitgestellt werden (Urteil vom 23.08.2021 - S 20 BA 2427/19).
Die Klägerin beauftragte die Beigeladene im streitgegenständlichen Zeitraum mit Reinigungsarbeiten in ihren betrieblichen Räumlichkeiten. Im Rahmen einer Betriebsprüfung gelangte die Beklagte zu der Einschätzung, dass die Beigeladene versicherungspflichtig bei der Klägerin angestellt gewesen sei.
Nach Ansicht der Kammer überwogen dagegen im Rahmen der Gesamtwürdigung die Merkmale einer selbstständigen Tätigkeit: Für eine Eingliederung spreche vorliegend alleine die Tatsache, dass die Klägerin die Putzutensilien (Staubsauger, Putzmittel) gestellt bzw. bezahlt habe. Da die Beigeladene aber über ihre eigene Arbeitskraft frei habe verfügen können, insbesondere Aufträge habe ablehnen und ihre Tätigkeit im Wesentlichen frei habe gestalten können, sprächen die überwiegenden Tatsachen für Selbständigkeit. Die Kammer verkenne nicht, dass bei Arbeiten wie Putzen nur eine geringe Einweisung vonnöten sei und sich die selbständige Durchführung der Tätigkeit quasi aus der Tätigkeit selbst ergebe. Das Gesetz gebe jedoch keinen Anhalt, dass die selbständige Durchführung derartiger Arbeiten a priori nicht möglich sei.
IV. Gesetzliche Krankenversicherung
1. Die Aufforderung nach § 51 SGB V, einen Antrag auf Durchführung einer Rehabilitationsmaßnahme zu stellen, setzt die Ausübung von Ermessen voraus. Die Ermessensausübung kann im Rahmen des Widerspruchsverfahrens nicht nachgeholt werden (Gerichtsbescheid vom 03.12.2021 - S 28 KR 4359/20, rechtskräftig).
Der Kläger ist bei der beklagten Krankenkasse versichert und erkrankte arbeitsunfähig. Die Beklagte forderte ihn auf, binnen zehn Wochen einen Antrag auf Durchführung einer Rehabilitationsmaßnahme zu stellen (§ 51 SGB V) und zahlte nach Ablauf der Frist – und nicht erfolgter Antragstellung – Krankengeld nicht mehr aus. Der Kläger hat Klage erhoben und die Zahlung von Krankengeld begehrt.
Das Gericht hat der Klage stattgegeben. Die Ermessensentscheidung, welche im Ausgangsbescheid unterblieben sei, habe nicht nachgeholt werden können. Zwar komme die Nachholung einer zunächst unterbliebenen Ausübung von Ermessen grundsätzlich in Betracht; hiervon divergiere der vorliegende Fall jedoch, da in dem maßgeblichen Bescheid eine Frist gesetzt worden sei. Durch die Nachholung des Ermessens wäre eine bereits überholte Fristsetzung im Nachgang gerechtfertigt worden. Dem stünden jedoch die Interessen des Adressaten entgegen, der nicht zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, sondern zum Zeitpunkt der Fristauslösung in die Lage versetzt werden müsse, die Entscheidung auf deren Rechtmäßigkeit zu überprüfen.
2. Die Beitragsforderung ist eine sogenannte Bringschuld (§ 270 Abs. 1 BGB)). Der Beitragsschuldner trägt das Risiko des Zahlungsweges. Er hat also dafür zu sorgen, dass der Versicherungsträger spätestens am Fälligkeitstag im Besitz der geschuldeten Beiträge ist. Ist dies nicht der Fall, sind Säumniszuschläge nach § 24 SGB IV zu zahlen (Gerichtsbescheid vom 10.08.2021 - S 18 KR 903/20, rechtskräftig).
Der Kläger wandte sich mit der Klage gegen die Erhebung von Säumniszuschlägen und Mahngebühren. Er führte als Arbeitgeber Sozialversicherungsbeiträge per Überweisung für einen seiner Mitarbeiter, welcher bei der beklagten Krankenkasse versichert war, an diese ab. Die Beklagte erhob Säumniszuschläge und Mahngebühren, da die Beiträge mehrfach nicht am drittletzten Bankarbeitstag des Monats bei der Beklagten eingingen (vgl. § 23 Abs. 1 S. 2 SGB IV). Der Kläger wandte hiergegen ein, dass sein Konto immer am drittletzten Bankarbeitstag belastet worden sei, die Beitragszahlungen mithin rechtzeitig erfolgt seien.
Das Gericht hat die Klage abgewiesen, da es nicht darauf ankomme, wann das Konto des Klägers belastet werde, sondern wann die Wertstellung zugunsten der Beklagten erfolge.
3. Um die monatlichen Einkünfte eines hauptberuflich selbstständig Tätigen, der freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert ist, festzustellen, darf die Krankenkasse nicht die Zeiten eines Bezugs von Krankengeld herausrechnen (Urteil vom 18.05.2022 - S 18 KR 1362/21, Berufung anhängig – L 11 KR 1740/22).
Die Beklagte bezog bei der Beitragsberechnung die Zeiten des Krankengeldbezuges des Klägers (120 Tage) nicht ein. Sie verteilte die aus dem Einkommensteuerbescheid ersichtlichen Einkünfte auf die verbleibenden 240 Tage des Jahres, an welchen der Kläger nicht arbeitsunfähig war. Hiergegen wandte sich der Kläger mit seiner Klage, da die Beklagte zu Unrecht höhere Beiträge aus einem fiktiven Einkommen erhoben habe.
Das Gericht hat der Klage stattgegeben. § 5 Abs. 2 S. 3 BeitrVerfGrdS bilde keine wirksame Rechtsgrundlage für die Vorgehensweise der Beklagten und widerspreche den Grundsätzen der Berechnung von Beiträgen aus Arbeitseinkommen.
4. Die Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem 6. Kapitel des SGB XII und die Leistungen der Behandlungspflege nach § 37 Abs. 2 SGB V verfolgen unterschiedliche Ziele. Die Zuordnung des Bedarfs ist entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts anhand der Zielrichtung der Hilfeleistung unter Zugrundelegung eines individuellen Prüfungsmaßstabs zu treffen. Dient die Hilfeleistung der Bewältigung von Anforderungen des Schulalltags, also zur Verbesserung oder Erleichterung des Schulbesuchs, ist der Bedarf der Eingliederungshilfe zuzuordnen (Integrationshelfer). Handelt es sich dagegen allein um krankheitsbedingten Bedarf, ist er der medizinischen Rehabilitation zuzuordnend (Behandlungssicherungspflege) (Urteil vom 12.08.2021 - S 22 KR 3926/18, rechtskräftig).
Im vorliegenden Fall stritten das klagende Sozialamt und die beklagte Krankenkasse um die Kostenerstattung wegen einer Schulbegleitung. Der am 30. Juni 1999 geborene und bei der Beklagten Versicherte leidet an Hemimegalenzephalie begleitet von fokalen epileptischen Anfällen, einer Entwicklungsstörung und geistigen Behinderung. Er erhielt seit Ende des Jahres 2012 Leistungen nach dem SGB XII durch die Klägerin. Ab dem Schuljahr 2014/2015 besuchte er eine Schule in Stuttgart und wurde dort ständig von einem Teilnehmer eines Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ) begleitet. Im Oktober 2015 begehrte die Klägerin erstmals die Kostenerstattung bei der Beklagten, weil es sich dabei ihrer Ansicht nach um erforderliche Assistenzleistungen wegen häuslicher Krankenpflege nach § 37 SGB V handelte.
Vorrangiges Ziel der Schulbegleitung war es vorliegend nach dem Ergebnis der Ermittlungen, dem Versicherten den Besuch der Schule zu ermöglichen. Zwar diente die Leistung auch zugleich der medizinischen Intervention, nämlich der gegebenenfalls notwendig werdenden Verabreichung eines Notfallmedikaments im Falle des Eintritts eines schweren epileptischen Anfalls (und auch dann nur in Rücksprache mit den Eltern); im Vordergrund stand jedoch die Ermöglichung der für den Versicherten gefahrenfreie Teilnahme am Unterricht und des gefahrenfreien Aufenthalts im Schulgebäude und somit die gleichberechtigte Teilhabe des Versicherten am Unterricht. Vorliegend stellte es sich so dar, dass der Versicherte den Schulalltag nur mit Assistenz bewältigen konnte und dies nicht von den Lehrern oder Eltern zu bewerkstelligen war. Insbesondere war das Bearbeiten von Aufgaben im Unterricht nur dann möglich, wenn er ständige, direkte Zuwendung durch verbale Unterstützung erfuhr. Er benötigte für Aufgaben der Selbstversorgung danach eine „Eins-zu-Eins-Betreuung“. Er benötigte während des Unterrichts und in den Pausen eine Bezugsperson, die sein Verhalten beobachtet und ihm Hilfestellung gibt, um den Schulalltag zu meistern. Die Eingliederungshilfe unterstützte den Versicherten, damit er Arbeitsaufträge im Unterricht wahrnehmen und umsetzen konnte. Außerdem war die ständige Begleitung auch im Schulhaus nötig, um zu verhindern, dass der Versicherte die Treppe benutzt. Die ständige Unterrichtsbegleitung war für die schulische Förderung unabdingbar. Alleine aus den ärztlichen Verordnungen – welche die Eltern ohnehin nur auf Nachdruck des Sozialamts beschafften – folgte zudem nicht, dass es sich um Behandlungspflege i. S. v. § 37 SGB V handelte. Ein Versorgungsanspruch aus § 37 SGB V besteht nämlich nicht aufgrund einer vertragsärztlichen Verordnung nach § 73 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 SGB V bzw. aufgrund einer Verordnungshoheit. Maßgebend ist nach den oben genannten Grundsätzen zur Überzeugung der Kammer vielmehr, ob die ständige Beobachtung der gesundheitlichen Situation des Klägers durch eine medizinische Fachkraft wegen der Gefahr von ggf. lebensgefährdenden Komplikationen und die hierdurch erforderliche Möglichkeit der jederzeitigen Intervention erfolgen muss.
5. Bei der Einstufung einer Tätigkeit unter den Kunstbegriff des § 2 Künstlersozialversicherungsgesetz (KSVG) ist u.a. darauf abzustellen, ob eine Tätigkeit im Wesentlichen durch das künstlerische Element oder nach allgemeinem Verständnis durch andere Elemente, wie zeremonielle Wortbeiträge im Rahmen einer Trauung, bestimmt wird. Die Tätigkeit einer Traurednerin bei freien Trauungen unterliegt im Regelfall nicht der Sozialversicherung nach § 1 KSVG, da Trauredner weder als Künstler noch publizistisch tätig sind (Urteil vom 04.05.2022 - S 3 KR 1817/19).
Die Klägerin, die als Hochzeitsrednerin selbständig erwerbstätig ist, begehrt für diese Tätigkeit die Aufnahme in die Künstlersozialversicherung. Sie macht geltend, dass es sich bei den von ihr durchgeführten freien Trauungen um künstlerische bzw. publizistische Tätigkeiten handle, die den Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung nach § 1 KSVG ermöglichten.
6. Die Kosten eines vom Rettungsdienst im Zusammenhang mit einer notwendigen Krankenfahrt veranlassten Einsatzes der freiwilligen Feuerwehr zur Beförderung eines Versicherten zum Rettungswagen hat die Krankenkasse nur im Fall eines Leistungsversagen zu tragen, wenn die Verrichtung, zu der die Feuerwehr hinzugezogen wurde, grundsätzlich vom Rettungsdienst bzw. Krankentransport mit eigenen Mitteln hätte durchgeführt werden können. Kann der Abtransport dagegen nicht mit der standardmäßigen Ausstattung und dem Personal des Rettungsdienstes bzw. Krankentransportes bewältigt werden, liegt der Einsatz der Feuerwehr selbst dann außerhalb des versicherten Risikos, für das die Krankenkassen einzustehen haben, wenn der Versicherte krankheits- oder verletzungsbedingt auf die Bergung angewiesen war (Urteil vom 14.03.2022 - S 23 KR 2757/21, rechtskräftig).
Die Klägerin verunfallte im Januar 2021 in der Wolfsschlucht bei Calw und brach sich hierbei den Knöchel. Nachdem es weder anderen Wanderern, noch dem alarmierten Rettungsdienst mit den zur Verfügung stehenden Mitteln gelungen war, die gehunfähige Klägerin den Steilhang hinauf zu transportieren, wurde die Freiwillige Feuerwehr der Gemeinde A. hinzugerufen. Diese barg die Klägerin schließlich mittels Teleskopgelenkfahrzeug und Schleifkorb aus der Schlucht, von wo sie anschließend vom Rettungsdienst ins Krankenhaus Calw transportiert wurde. Den Kostenbescheid der Gemeinde A., mit welchem diese gegenüber der Klägerin Kosten für den Einsatz der Freiwilligen Feuerwehr festsetzte, reichte die Klägerin bei der Beklagten zur Begleichung ein.
Die Beklagte lehnte eine Kostenübernahme ab. Zwar übernähmen die Krankenkassen die Kosten für Krankenfahrten einschließlich von Transporten, wenn sie im Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse aus zwingenden medizinischen Gründen notwendig seien, nicht zu den Krankentransportkosten gehörten hingegen Fälle der Gefahrenabwehr. Hierbei handele es sich um eine allgemeine öffentlich-rechtliche Aufgabe, für welche die Gemeinden und Landkreise zuständig seien.
Die Klage blieb erfolglos. Nach Ansicht der Kammer hat es sich vorliegend bei der von der Feuerwehr geleisteten Unterstützung nicht mehr um eine von der Krankenkasse geschuldete Annexleitung zum Krankentransport gehandelt. Dies ergebe sich zum einen bereits daraus, dass die Feuerwehr zur Bergung der Klägerin ein Teleskopgelenkfahrzeug und einen Schleifkorb habe einsetzen müssen, es somit der besonderen technischen Hilfe der Feuerwehr bedurft habe, einer Leistungspflicht stehe darüber hinaus entgegen, dass die Feuerwehr vorliegend eine Aufgabe der allgemeinen Gefahrenabwehr wahrgenommen hat, die nicht in den Verantwortungsbereich der Krankenkasse falle. Denn selbst wenn die Klägerin nicht ins Krankenhaus hätte verbracht werden müssen, wäre es ihr ohne das Eingreifen der Feuerwehr nicht gelungen, die Wolfsschlucht allein zu verlassen, so dass der Einsatz zur Rettung aus einer Gefahrensituation unabhängig von der anschließenden Beförderung erforderlich gewesen sei.
Nicht entschieden hat die Kammer, ob die Gemeinde A. berechtigt gewesen war, gegenüber der Klägerin Kosten festzusetzen. Dies müsse gegebenenfalls vor dem Verwaltungsgericht geklärt werden.
7. Ein an einer mittelgradigen Schwerhörigkeit beidseits leidender Versicherter hat gegen seine Krankenkasse keinen Anspruch auf Versorgung mit einer Lichtsignalanlage (Klingelleuchte für Telefon und Haustür) als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung (Gerichtsbescheid vom 12.04.2022 - S 23 KR 4943/20/20, rechtskräftig)
Die Klägerin leidet an einer mittelgradigen Schwerhörigkeit beidseits und ist mit Hörgeräten versorgt. Sie beantragte bei der Beklagten unter Vorlage einer Verordnung ihres Hals-Nasen-Ohrenarztes sowie eines Tonaudiogrammes die Kostenübernahme für eine optische Signalanlage für Telefon, Haustürklingel und Wecker. Die Beklagte lehnte den Antrag ab: Kosten für Lichtsignalanlagen könnten nur bei Taubheit, an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit oder im begründeten Einzelfall bei hochgradiger Schwerhörigkeit auf dem besseren Ohr übernommen werden. Dies sei nach dem vorgelegten Tonaudiogramm bei der Klägerin nicht der Fall.
Das Gericht hat die Klage nach Befragung des die Klägerin behandelnden Hals-Nasen-Ohrenarztes abgewiesen. Zwar seien Lichtsignalanlagen grundsätzlich zum Ausgleich einer Behinderung geeignet, könne Hörgeschädigten hierdurch doch das selbstständige Wohnen sowie Kommunikation ermöglicht werden; vorliegend fehle es dem Anspruch jedoch an der Erforderlichkeit im Einzelfall.
Gemäß dem Hilfsmittelverzeichnis des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenversicherung könnten die Kosten für Lichtsignalanlagen von der gesetzlichen Krankenversicherung bei Taubheit, an Taubheit grenzender grenzende Schwerhörigkeit sowie im begründeten Einzelfall bei hochgradiger Schwerhörigkeit übernommen werden, wenn akustische Signale (z. B. Türklingel, Babyschreie) nicht ausreichend wahrgenommen werden könnten. Nach Auswertung der vorliegenden Tonaudiogramme bestehe bei der Klägerin indes (lediglich) eine mittelgradige Schwerhörigkeit beidseits, so dass die Indikation für die begehrte Lichtsignalanlage nach dem Hilfsmittelverzeichnis nicht vorliege. Zwar stelle das Verzeichnis der Spitzenverbände für die Gerichte nur eine unverbindliche Auslegungshilfe dar, andererseits biete das Hilfsmittelverzeichnis Anhaltspunkte für eine gleichmäßige Behandlung aller Versicherten und diene daher der Orientierung auch der Gerichte bei ihrer Entscheidungsfindung. Davon, dass die Lichtsignalanlage im vorliegenden Einzelfall trotz deutlich besseren Hörvermögens als im Regelfall ihrer Verordnung erforderlich sein solle, habe sich die Kammer nicht zu überzeugen vermocht.
8. Wer zur Linderung der Symptome eines Tourette-Syndroms über 20 Jahre hinweg täglich Cannabis konsumiert, ohne verhaltenstherapeutische oder medikamentöse Behandlungsversuche zu unternehmen, hat keinen Anspruch darauf, dass die Kosten für seine Versorgung mit Cannabis von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden (Gerichtsbescheid vom 21.06.2021 - S 9 KR 1580/21).
Die Beteiligten stritten um die Versorgung des Klägers mit 20 mg Dronabinol pro Tag. Der 1984 geborene Kläger leidet an einem Tourette-Syndrom, das sich in kurzen Ausstößen grunzender Laute und in motorischen Tics vorwiegend im Bereich der rechten Schulter äußert. Seit dem Jahr 2000 konsumiert der Kläger täglich Cannabis. Andere Therapieversuche unternahm er nicht.
Das Gericht hat die auf Kostenübernahme für seine Versorgung mit Cannabis gerichtete Klage abgewiesen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die in § 31 Absatz 6 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch geregelten Voraussetzungen eines Anspruchs auf Versorgung mit Cannabis nicht erfüllt seien. Mit einem Tourette-Syndrom verbundene Beschwerden könnten durch verhaltenstherapeutische Interventionen und Medikamente wirksam behandelt werden. Dabei handle es sich um allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen. Die vom Gesetz verlangte begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, warum die allgemein anerkannten Leistungen im Einzelfall nicht zur Anwendung kommen können, sei hier nicht nachvollziehbar. Da der Kläger seit Erreichen der Volljährigkeit keinerlei Therapieversuch unternommen habe, stehe dessen Erfolglosigkeit nicht fest. Außerdem fehle hier die ärztliche Auseinandersetzung mit der Frage, ob beim Kläger nach über zwanzig Jahren Cannabiskonsum nicht längst eine Sucht vorliegt, die als Kontraindikation abzuklären und auszuschließen wäre. Schließlich überschreite die vom Kläger begehrte monatliche Versorgungsmenge von 600 mg Dronabinol die Höchstmenge von 500 mg, die ein Arzt einem Patienten gemäß der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung innerhalb von 30 Tagen verschreiben dürfe.
9. In Streitigkeiten zwischen Krankenhaus und Krankenkasse über die Zahlung der gesetzlichen Aufwandspauschale von 300 Euro für eine Rechnungsprüfung, die zu keiner Minderung des vom Krankenhaus abgerechneten Betrags führt, kommt es zur Bestimmung des Prüfungsgegenstands nicht auf die Prüfanzeige des Medizinischen Dienstes, sondern auf den Prüfauftrag der Krankenkasse an (Gerichtsbescheid vom 11.01.2022 - S 9 KR 118/19).
Das klagende Krankenhaus begehrte die Verurteilung der beklagten Krankenkasse zur Zahlung der Aufwandspauschale in Höhe von 300 Euro. Dieser Anspruch setzt u.a. voraus, dass die Krankenkasse nicht (nur) eine Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit einer vom Krankenhaus gestellten Rechnung, sondern (auch) eine Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Krankenhausbehandlung eingeleitet hat. Maßgeblich hierfür ist der Prüfauftrag, den die Krankenkasse dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) erteilt hat, und nicht die Prüfanzeige des MDK gegenüber dem Krankenhaus. Bei der Auslegung des Inhalts des Prüfauftrags kann ergänzend auch die daraufhin erstellte sozialmedizinische Stellungnahme des MDK berücksichtigt werden.
V. Schwerbehindertenrecht
Ein Teilverlust der ulnaren Seite des Zeigefingerendgliedes rechtfertigt keinen höheren GdB als 10 (Gerichtsbescheid vom 24.01.2022 - S 7 SB 2127/20, rechtskräftig).
Die Klägerin verletzte sich im Rahmen eines Arbeitsunfalles an einer Nietmaschine und erlitt dadurch einen Teilverlust der unteren Fingerkuppe ihres rechten Zeigefingers. Der Beklagte stellte einen GdB von 10 fest. Die Klägerin begehrte einen GdB von mindestens 30.
Die Kammer hat die Klage abgewiesen. Beurteilungsgrundlage für die Einschätzung des Teil-GdB sei die Nr.18.13 im Teil B der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG). Das bei der Klägerin festgestellte Funktionsdefizit an der ulnaren Seite des Endgliedes von D II werde in den VG nicht genannt, weswegen ein Vergleich mit gleichen oder ähnlichen Funktionsdefiziten im Bereich der Hände vorgenommen werden müsse. Die VG sehen in Teil B 18.13 bei Verlust des Zeigefingers, Mittelfingers, Ringfingers oder Kleinfingers, auch mit Teilen des dazugehörigen Mittelhandknochens einen GdB von 10 vor. Das klägerische Funktionsdefizit sei damit zu vergleichen.
VI. Sozialhilfe
Der Hilfebedürftige hat bei einer schuldhaften Beschädigung seiner Mietwohnung keinen Anspruch auf Freistellung von privaten Schulden aus Mitteln der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Gerichtsbescheid vom 13.05.2022 - S 11 SO 612/22, Berufung anhängig).
Der Kläger begehrte die Übernahme von Reparaturkosten für die von ihm beschädigte Zimmerdecke der von ihm bewohnten Mietwohnung. Die Beklagte lehnte den Antrag auf Gewährung einer einmaligen Leistung zur Zimmerdeckenreparatur ab, da nur Kosten berücksichtigt werden könnten, die sich bei einem ordnungsgemäßen und pfleglichen Umgang mit einer Mietsache üblicherweise ergeben würden, wie zum Beispiel regelmäßige Nebenkostenabrechnungen. Kosten für Schäden, die sich durch unsachgemäßes Verhalten gegenüber der Mietsache ergäben, wie zum Beispiel Löcher oder Dellen, die durch ständiges Schlagen gegen die Wände oder Decken entstünden, stellten keine sozialhilferechtlich notwendigen Unterkunftskosten im Sinne des § 35 SGB XII dar und könnten daher nicht übernommen werden. Die Kammer hat die Klage als unbegründet abgewiesen.
VII. Gesetzliche Unfallversicherung
1. Bei einem Versicherten, der 26 Jahre als Schreiner, Fensterbauer und Küchenmonteur wirbelsäulenbelastend mit einer Gesamtbelastungsdosis von 28,3 Mega-Newtonstunden nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell gearbeitet hat, ist trotz Vorliegens der arbeitstechnischen Voraussetzungen die Berufskrankheit 2108 der Berufskrankheitenverordnung nur dann anzuerkennen, wenn die medizinischen Voraussetzungen nach den Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Erkrankungen der LWS (Konsensempfehlungen) nachweislich vorliegen (Gerichtsbescheid vom 9.5.2022 - S 1 U 3732/21, noch nicht rechtskräftig).
Bei Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen, wie sie sich aus der Stellungnahme des Präventionsdienstes der Beklagten nach dem MDD eindeutig ergeben, sind hier allein die medizinischen Voraussetzungen der BK 2108 streitig. Für das Vorliegen dieser BK müssen die versicherte Tätigkeit, die schädigende Einwirkung und die als Folge geltend gemachte Gesundheitsstörung als anspruchsbegründende Tatsachen erwiesen sein. Es muss also bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können (BSG-Urteil vom 30.04.1985, 2 RU 43/84, SozR 2200 § 555a Nr. 1). Demgegenüber genügt hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung (Einwirkungskausalität) sowie der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung (haftungsbegründende Kausalität) eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (BSG-Urteil vom 27.06.2006, B 2 U 20/04 R und Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R sowie Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 19.11.2009, L 2 U 154/06, Fundstellen jeweils Juris). Ein Zusammenhang ist hinreichend wahrscheinlich, wenn nach herrschender ärztlich- wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr für als gegen ihn spricht und ernste Zweifel an einer anderen Ursache ausscheiden. Wahrscheinlichkeit ist jedoch nicht schon dann gegeben, wenn ein Ursachenzusammenhang nicht auszuschließen oder nur möglich ist (BSG-Urteil vom 27.06.2000, B 2 U 29/99 R, Fundstelle Juris).
Der Anfechtungs- und Feststellungsanspruch des Klägers scheitert an den medizinischen Voraussetzungen der streitigen BK. In der medizinischen Wissenschaft ist anerkannt, dass Bandscheibenschäden und Bandscheibenvorfälle, insbesondere der unteren LWS, in allen Altersgruppen vorkommen. Da diese Bandscheibenerkrankungen ebenso in Berufsgruppen vorkommen, die während ihres Arbeitslebens keiner schweren körperlichen Belastung ausgesetzt gewesen sind, ebenso in solchen, die auch schwere körperliche Arbeiten leisten mussten, kann allein die Erfüllung der arbeitstechnischen Voraussetzungen, wie hier nach den Ausführungen des Präventionsdienstes der Beklagten im Sinne des sogenannten MDD, die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines wesentlichen Kausalzusammenhangs nicht begründen (vgl. dazu Merkblatt zur BK 2108, Bekanntmachung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 1. September 2006, IV a-4-45222-2108, Bundesarbeitsblatt 10/2006, S. 30 ff.). Im Hinblick auf die Schwierigkeiten bei der Beurteilung des Ursachenzusammenhangs bei der BK 2108 ist die medizinische Wissenschaft deshalb gezwungen gewesen, weitere Kriterien zu entwickeln, die zumindest in ihrer Gesamtschau für oder gegen eine berufliche Verursachung sprechen. Diese sind niedergelegt in den medizinischen Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der LWS, die als Konsens-Empfehlungen zur Zusammenhangsbegutachtung auf Anregung der vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften eingerichteten interdisziplinären Arbeitsgruppe erarbeitet worden und anzusehen sind (vgl. Konsensempfehlungen, Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule (I); Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbegutachtung der auf Anregung des HVBG eingerichteten interdisziplinären Arbeitsgruppe, Trauma und Berufskrankheit, Heft 3/2005, Springer Medizinverlag,S.211ff.;http://berufskrank.de/Berufskrankheiten/Berufskrankheiten/BK%202108-2110-HVBG-Konsensus%20AG%). Diese stellen unverändert den aktuellen Stand der nationalen und internationalen Diskussion zur Verursachung von LWS-Erkrankungen durch körperliche berufliche Belastungen dar (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23.05.2012, L3 U 78/09; Hessisches LSG, Urteil vom 04.05.2021 - L 3 U 70/19, Fundstelle jeweils Juris). Die Konsensempfehlungen bilden auch nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts –BSG- (s. dazu zuletzt Urteil vom 23. April 2015 - B 2 U 20/14 R –Fundstelle Juris) weiterhin den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand ab.
In den Konsensempfehlungen (1.4.) wird u.a. dargelegt:
Bei Erfüllung der Grundvoraussetzungen ist anhand der nachfolgenden Kriterien abzuwägen, ob ein Ursachenzusammenhang wahrscheinlich ist:
– Eine Betonung der Bandscheibenschäden an den unteren 3 Segmenten der Lendenwirbelsäule spricht eher für einen Ursachenzusammenhang mit der beruflichen Belastung.
– Ein Befall der HWS und/oder BWS kann je nach Fallkonstellation gegen einen Ursachenzusammenhang sprechen. Für den Vergleich zwischen LWS und darüber gelegenen Wirbelsäulenabschnitten sind hierbei Chondrosen und Vorfälle maßgeblich. Nicht mit Chondrosen einhergehende Spondylosen der HWS und/oder BWS haben bei gleichzeitigem Vorliegen einer altersuntypisch ausgeprägten Spondylose an der LWS keine negative Indizwirkung.
– Eine Aussparung der beiden unteren LWS-Segmente spricht eher gegen eine berufliche Verursachung.
– Als Begleitspondylose wird definiert eine Spondylose
a) in/im nicht von Chondrose oder Vorfall betroffenen Segment(en) sowie
b) in/im von Chondrose oder Vorfall betroffenen Segment(en), die nachgewiesenermaßen vor dem Eintritt der bandscheibenbedingten Erkrankung im Sinne einer Chondrose oder eines Vorfalls aufgetreten ist.
Um eine positive Indizwirkung für eine berufsbedingte Verursachung zu haben, muss die Begleitspondylose über das Altersmaß (s. Abschnitt 1.2) hinausgehen und mindestens 2 Segmente betreffen. (Anmerkung: Spondylosen, die auf einen konkurrierenden Ursachenfaktor zurückgeführt werden können — wie Abstützreaktionen bei Skoliose — gelten nicht als Begleitspondylose mit Indizwirkung für eine berufliche Verursachung.)
– Bei Vorliegen einer Begleitspondylose als Positivkriterium ist eine Anerkennung als Berufskrankheit auch möglich, wenn konkurrierende Ursachenfaktoren erkennbar werden, die jedoch das Schadensbild nicht durch eine überragende Qualität erklären.
– Bei beruflichen Belastungen, bei denen sich die Gefährdung hauptsächlich aus wiederholten Spitzenbelastungen ergibt, hat das Fehlen einer Begleitspondylose keine negative Indizwirkung.
– Bei monosegmentaler Chondrose im Röntgenbild ohne Begleitspondylose sprechen Plausibilitätsüberlegungen bei fehlenden magnetresonanztomographischen Begleitbefunden in anderen Segmenten (black disc) eher gegen das Vorliegen einer Berufskrankheit, wenn das 45. Lebensjahr überschritten ist [...].
Mit dem Buchstaben B beginnende Konstellationen
– Lokalisation: Die bandscheibenbedingte Erkrankung betrifft L5/S1 und/oder L4/L5
– Ausprägung des Bandscheibenschadens: Chondrose Grad II oder höher und/oder Vorfall
Soweit nachfolgend konkurrierende Ursachenfaktoren angesprochen werden, bezieht sich dies jeweils auf die Ausführungen hierzu unter Abschnitt 2.1.
Konstellation B1
Wesentliche konkurrierende Ursachenfaktoren erkennbar: nein
Begleitspondylose: ja
Beurteilung: Zusammenhang wahrscheinlich
Konstellation B2
Wesentliche konkurrierende Ursachenfaktoren erkennbar: nein
Begleitspondylose: nein
Zusätzlich mindestens eins der folgenden Kriterien erfüllt:
– Höhenminderung und/oder Prolaps an mehreren Bandscheiben — bei monosegmentaler/m Chondrose/Vorfall in L5/S1 oder L4/L5 black disc im Magnetresonanztomogramm in mindestens 2 angrenzenden Segmenten (Hinweis: ggf. Magnetresonanztomogramm der Lendenwirbelsäule im Rahmen der Begutachtung veranlassen)
– Besonders intensive Belastung; Anhaltspunkt: Erreichen des Richtwertes für die Lebensdosis in weniger als 10 Jahren.
– Besonderes Gefährdungspotenzial durch hohe Belastungsspitzen; Anhaltspunkt: Erreichen der Hälfte des MDD-Tagesdosis-Richtwertes durch hohe Belastungsspitzen (Frauen ab 4 1/2 kN; Männer ab 6 kN)
Beurteilung: Zusammenhang wahrscheinlich
Die Konsens-Empfehlungen werden hier richtigerweise vom Verwaltungsgutachter Dr. F, ebenso von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit, zur Gleichbehandlung aller Versicherten für den Nachweis einer bandscheiben- und berufsbedingten Erkrankung herangezogen. Nach den Konsens-Empfehlungen ist unabdingbare, nicht jedoch hinreichende Voraussetzung für den Nachweis einer bandscheibenbedingten Erkrankung, der bildgebende Nachweis eines Bandscheibenschadens, also einer Höhenminderung der Bandscheibe (Chondrose) bzw. eines Bandscheibenvorfalls. Hinzutreten muss eine damit im Zusammenhang stehende klinische Symptomatik. Erforderlich ist ein Krankheitsbild, das über einen längeren Zeitraum andauert, also chronisch oder zumindest chronisch wiederkehrend ist. Dieses Krankheitsbild muss zu Funktionseinschränkungen führen. Erforderlich ist ein bestimmtes radiologisches Bild sowie ein damit korrelierendes klinisches Bild (vgl. Merkblatt zur BK 2108 sowie die Konsens-Empfehlungen 1.3). Als mögliche sekundäre Folge des Bandscheibenschadens können bildgebend darstellbare Veränderungen wie die Spondylose (Überbegriff für durch Verschleiß bedingte Beschwerden an der Wirbelsäule. Weitere gängige Namen für die Krankheit sind Spondylarthrose, Osteoarthrose der Wirbelsäule beziehungsweise Facettensyndrom. Als charakteristisches Kennzeichen bilden sich dabei an besonders beanspruchten Wirbelkörpern knöcherne Sporne –Spondylophyten-), die Sklerose (darunter versteht man eine Verhärtung von Organen oder Gewebe durch eine Vermehrung des Bindegewebes; die Sklerose ist keine eigenständige Krankheit, sondern Folge einer anderen Grunderkrankung, Ursache ist oft eine Gewebsschädigung in der Folge von Entzündungen, Durchblutungsstörungen oder auch Alterung; ebenso können Autoimmunerkrankungen zu einer Sklerose führen; Folge ist eine unkontrollierte Produktion von Bindegewebe, die zu der Verhärtung führt; die befallenen Organe werden hart und verlieren ihre Elastizität) der Wirbelkörperabschlussplatten, die Retrospondylose (darunter versteht man Veränderungen, die den hinteren Teil des Wirbelkörpers betreffen; der Wirbelkörper ist der Teil des Wirbels, der die Last trägt, die Spondylarthrose (bei dieser verschleißen die kleinen Wirbelgelenke; sie tritt altersbedingt bei fast jedem Menschen auf und verursacht in vielen Fällen Rückenschmerzen; Ursachen und Risikofaktoren sind altersbedingter Verschleiß, Überlastung durch Sport, schwere körperliche Arbeit oder Übergewicht), die degenerative Spondylolisthesis (beim Wirbelgleiten oder Spondylolisthesis bzw. Spondylolisthese liegt eine Instabilität der Wirbelsäule vor, bei der sich einzelne Wirbel nach vorne oder hinten gegeneinander verschieben) und eine knöcherne Enge des Spinalkanals auftreten. Teilweise können derartige Veränderungen auch unabhängig von einem Bandscheibenschaden existieren, wie zum Beispiel bei der primären Spondylarthrose, der Spondylarthrose aufgrund eines Hohlkreuzes oder dem anlagebedingt engen Spinalkanal. Heranzuziehen sind die der Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit zeitlich nächstliegenden Röntgenbilder.
Für sämtliche B-Konstellationen wird nach den Konsensempfehlungen vorausgesetzt, dass die bandscheibenbedingte Erkrankung nach ihrer Lokalisation die Segmente L5/S1 und/oder L4/L5 betrifft und eine Ausprägung als Chondrose Grad II oder höher und/oder eines Vorfalles hat.
Hier ist lediglich ein monosegmentaler Bandscheibenschaden des unteren LWS-Segments L5/S1 gesichert. Eine Anerkennung dieses LWS-Schadens unter der Konstellation B1 der Konsensempfehlungen scheidet dabei aus, weil es am Vorliegen einer Begleitspondylose fehlt, die als ein maßgebliches Positivkriterium für die Annahme des Kausalzusammenhangs zu sehen ist (Konsensempfehlungen, a. a. O., S. 217). Als Begleitspondylose wird in den Konsensempfehlungen eine Spondylose definiert, die entweder in dem nicht von Chondrose oder Vorfall betroffenen Segment vorliegt oder zwar in dem von Chondrose oder Vorfall betroffenen Segment aufgetreten ist, aber nachgewiesenermaßen vor dem Eintritt der bandscheibenbedingten Erkrankung im Sinne einer Chondrose oder eines Vorfalls (Konsensempfehlungen, a. a. O., S. 216).
Um eine positive Indizwirkung für eine berufsbedingte Verursachung zu haben, muss die Begleitspondylose über das Altersmaß (s. Abschnitt 1.2) hinausgehen und mindestens 2 Segmente betreffen. Nach den radiologischen Befunden und deren Auswertung durch Dr. F liegt eine solche Begleitspondylose im Fall des Klägers nicht vor, weil keine Spondylose in einem von einer Chondrose oder einem Bandscheibenvorfall betroffenen Segment gegeben ist. Deshalb liegt hier die Konstellationen B1 nicht vor, worauf Dr. H und Dr. F überzeugend begründet hinweisen.
Dies gilt auch für die Konstellation B2 weil eine Chondrose und / oder ein Vorfall an mehreren Bandscheiben der LWS nicht vorliegt und Begleitbefunde in anderen Segmenten (black disc), in mindestens zwei angrenzenden Segmenten, ebenfalls nicht gegeben sind. So beschreibt Dr. Herold eine altersvorauseilende Spondylosis deformans nur in dem Segment L2/3. Nach den Konsensempfehlungen kann ein Befall der HWS und / oder BWS je nach Fallkonstellation gegen einen Ursachenzusammenhang sprechen. Hier wird dies von Dr. H und Dr. F aufgrund der degenerativen Veränderungen im Bereich der HWS in drei Segmenten (Dr. H) bzw. der Osteochondrose der HWS Grad 1 und der BWS Grad 2 (Dr. F) zur Begründung herangezogen
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sind die medizinischen Voraussetzungen für das Vorliegen der BK 2108 beim Kläger nicht gegeben. Das Vorliegen einer durch die berufliche Tätigkeit verursachten bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS ist bei ihm nicht nachgewiesen. Danach sind beim Kläger weder die Konstellation B1 noch B2 der Konsens-Empfehlungen gegeben. Dies wird von Dr. F und Dr. H aufgrund der zeitnah zur Tätigkeitsaufgabe 2006 erhobenen Befunde plausibel und nachvollziehbar dargestellt. Aus diesen Gründen ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass die medizinischen Voraussetzungen für die Feststellung der streitigen BK 2108 nicht gegeben sind. Diese liegen nachweislich nicht vor.
2. Die Voraussetzungen der Berufskrankheit 1317 der Berufskrankheitenverordnung, „Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische“, ist bei einem Versicherten, der 28 Jahre als Schwimmmeister in Hallenbädern gearbeitet hat, nur gegeben, wenn bei ihm eine Polyneuropathie oder Enzephalopathie im Vollbeweis gesichert sind und vorliegen (Gerichtsbescheid vom 14.6.2022 - S 1 U 3212/20, noch nicht rechtskräftig).
Nach § 9 Abs. 1 SGB VII sind Berufskrankheiten Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet (Listen-BK) und die Versicherte infolge einer den nach den §§ 2 und 3 begründenden Tätigkeiten erleiden. Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkung verursacht werden, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind. Sie kann dabei bestimmen, dass die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht worden sind (§ 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII).
Für die Feststellung einer Listen-BK ist erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und die Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Die berufsbedingte Erkrankung muss dann ggf. den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich ziehen (haftungsausfüllende Kausalität). Dies ist keine Voraussetzung für die Feststellung einer Listen-BK. Dabei müssen die versicherte Tätigkeit, die Verrichtung, die Einwirkungen und die Krankheit im Sinne des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt hingegen die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (vgl. BSG, Urteil vom 15.09.2011, B 2 U 25/10 R, Fundstelle Juris sowie BSG, Urteil vom 02.04.2005, B 1 U 30/07 R, Fundstelle Juris).
Die hier streitige BK Nr. 1317 hat der Verordnungsgeber wie folgt bezeichnet: „Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische“.
Im Fall des Klägers sind diese Listenerkrankungen hier nicht im Vollbeweis gesichert. Für den Vollbeweis ist eine absolute Sicherheit nicht erforderlich und zu erzielen. Erforderlich ist jedoch eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit, wonach kein vernünftiger Mensch mehr am Vorliegen vorgenannter Tatbestandsmerkmale zweifelt (BSGE 96, 291, 293; Meyer-Ladewig/Keller, SGG, 13. Auflage, § 128 Rn. 3b). Danach muss ein so hoher Grad von Wahrscheinlichkeit vorliegen, dass alle Umstände des Einzelfalles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung hiervon zu begründen (BSGE 103, 99, 104).
Beim Kläger ist eine Polyneuropathie, bei der es sich um eine (generalisierte) Erkrankung des peripheren Nervensystems handelt, für die Kammer eindeutig nicht nachgewiesen. Die Kammer stützt sich für diese Feststellung auf die im Ergebnis übereinstimmenden Feststellungen, Darlegungen und Begründungen von Professor Dr. Dr. K, Professor Dr. B und Professor Dr. W. Diese sind für die Kammer eindeutig, schlüssig und überzeugend. Professor Dr. Dr. K kommt nach Auswertung der Akten und Berücksichtigung der beruflichen Tätigkeit des Klägers als Schwimmmeister bis zum Jahr 2003 zum Ergebnis, dass nach Aufgabe der Schwimmmeistertätigkeit und expositionsfreier Zeit keine wesentliche Verbesserung im aktenkundigen psychopathologischen Zustand des Klägers zu erkennen sei. Zum Vorliegen der BK 1317 äußert er sich dahingehend, dass zum einen keine berufliche Einwirkung von neurotoxisch wirkenden organischen Lösungsmitteln habe nachgewiesen werden können, zum anderen weder das Auftreten einer Polyneuropathie noch einer Enzephalopathie zweifelsfrei belegt sei. So habe Professor Dr. F keine konkreten Untersuchungsbefunde, die eine Polyneuropathie oder eine Enzephalopathie belegen könnten, erhoben.
Der Toxikologe Professor Dr. W bestätigt in seinem toxikologischen Zusammenhangsgutachten, dass aufgrund der vorhandenen Befunde und Untersuchungsergebnisse die Möglichkeit der Entstehung einer Nervenschädigung in Form einer Enzephalopathie oder einer Polyneuropathie beim Versicherten praktisch nicht gegeben ist. Auch alle klinisch-chemischen und klinischen Befunde sprechen gegen das Vorliegen einer dauerhaften Leberschädigung des Versicherten.
Demgegenüber vermag die abweichende Auffassung des Verwaltungsgutachters Dr. F nicht zu überzeugen, weil dieser das Vorliegen der hier streitigen Listenerkrankungen zwar bejaht, aber nicht objektiv belegt. Seine Begründungen vermögen nicht zu überzeugen. Zur Begründung stützt sich die Kammer insoweit auf die ausführlichen Darlegungen von Professor Dr. Dr. K und Professor Dr. B. Diesen ist aus Sicht der Kammer nichts hinzuzufügen.
Wie die Polyneuropathie ist nach Überzeugung der Kammer auch die weitere Listenerkrankung der Enzephalopathie beim Kläger weder aktuell noch für die Vergangenheit objektiv nachgewiesen. Auch diesbezüglich stützt sich die Kammer auf die überzeugenden, eindeutigen und objektiv untermauerten Darlegungen und Begründungen von Professor Dr. Dr. K, Professor Dr. und Professor Dr. W. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt die Kammer auf deren Darlegungen Bezug.
Insbesondere das auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG eingeholte Gutachten bei Professor Dr. B ist für die Kammer schlüssig und überzeugend. Die vom Kläger geäußerte Kritik an der Objektivität des Sachverständigen hat nicht zu einem ausdrücklich gestellten Befangenheitsantrag des anwaltlich vertretenen Klägers geführt. Die Kammer hätte einen Befangenheitsantrag aufgrund der eindeutigen Sachlage auch zurückgewiesen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der Sachverständige vom Kläger selbst vorgeschlagen worden ist, dessen Kritik an der Glaubwürdigkeit des Sachverständigen erst nach Vorliegen des Gutachtens und seines für den Kläger negativen Ergebnisses vorgetragen worden ist, Professor Dr. B bereits von einem früheren Bevollmächtigten des Klägers im Verwaltungsverfahren als geeigneter Gutachter benannt worden ist und das Gutachten von Professor Dr. B nach seinem Inhalt und den Äußerungen des Sachverständigen unvoreingenommen und sachorientiert formuliert und inhaltlich begründet ist. Die Klage war aus diesen Gründen abzuweisen.
3. Kann die Ursache eines Sturzes nicht ermittelt werden, so liegt ein Arbeitsunfall nach §§ 7, 8 Abs. 1 SGB VII nicht vor, auch wenn die Versicherte während der versicherten Tätigkeit zu Fall gekommen ist und sich dabei verletzt hat (Urteil vom 21. Januar 2022 -10 U 2678/19).
4. Verlässt eine Versicherte ihren direkten Weg zur Arbeit, um ihre 10-jährige Tochter zu einem Treffpunkt mit einer gleichaltrigen Freundin zu begleiten, damit die beiden Schülerinnen gemeinsam zur Schule gehen können, so steht die Versicherte auf diesem Umweg unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Inobhutnahme i. S. d. § 8 Abs. 2 Ziff 2a SGB VII setzt nicht die Übernahme der Aufsichtspflicht i. S. d § 832 BGB durch die Freundin voraus (Urteil vom 18. Juni 2021 -S 10 U 4003/20).
VIII. Verfahrensrecht
1. Kosten eines Widerspruchsverfahrens sind nur zu erstatten, wenn der Widerspruch erfolgreich war. Hierfür muss eine ursächliche Verknüpfung zwischen der Einlegung des Rechtsbehelfs und einer begünstigenden Entscheidung der Behörde vorliegen (Urteil vom 23. November 2021 - S 19 AS 1658/20, rechtskräftig).
Der im Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) stehende Kläger legte, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, gegen die vom Beklagten per Verwaltungsakt erlassene Eingliederungsvereinbarung Widerspruch ein. Die Beklagte wies den Widerspruch (u.a.) mit der Begründung zurück, die Gültigkeit des Eingliederungsverwaltungsakts sei zwischenzeitlich nicht mehr gegeben, das Rechtsschutzbedürfnis daher entfallen. Rechtliche Nachteile seien dem Kläger aus der Vereinbarung nicht erwachsen.
Die Kammer wies die hiergegen erhobene Klage, mit welcher (nur) die Erstattung der notwendigen Auslagen des Widerspruchsverfahrens begehrt wurde, ab. Auch wenn eine Kostenentscheidung im Vorverfahren selbstständig mit der Klage angefochten werden könne, diese mithin zulässig sei, habe der Kläger vorliegend jedoch keinen Anspruch auf Erstattung der ihm im Widerspruchsverfahren angefallen Kosten. Ein Kostenerstattungsanspruch setze nach § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X voraus, dass „der Widerspruch erfolgreich ist“. Dabei müsse der Erfolg dem Widerspruch rechtlich zurechenbar sein, d.h. es müsse eine ursächliche Verknüpfung zwischen der Einlegung des Rechtsbehelfs und einer begünstigenden Entscheidung der Behörde bestehen. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Der Beklagte habe weder im Laufe des Widerspruchsverfahrens im Wege der Abhilfe noch im Widerspruchbescheid selbst eine den Kläger begünstigende Entscheidung in der Sache getroffen, sondern den Widerspruch zurückgewiesen. Mangels Rechtsschutzbedürfnisses sei der Widerspruch unzulässig geworden. Damit sei er im Sinne von § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X erfolglos. Insbesondere stelle das Nichtverhängen von Sanktionen durch den Beklagten keinen Erfolg im Sinne des § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X dar, da diese nicht Streitgegenstand des angegriffenen Verwaltungsaktes gewesen seien. Die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides sei nach Abschluss des Verfahrens im anschließenden Kostenverfahren nicht mehr zu überprüfen, insbesondere wenn - wie hier - nur noch die Kostenentscheidung des Widerspruchsbescheids angegriffen werde.
2. Ein Antrag auf Durchführung eines Beweissicherungsverfahrens nach § 76 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist nur dann zulässig, wenn dem Antragsteller Beweisnot droht (§ 76 Abs. 1 Alt. 1 SGG) oder er ein berechtigtes Interesse an der Feststellung des gegenwärtigen Zustands einer Person oder einer Sache darlegen kann (§ 76 Abs. 1 Alt. 2 SGG).
Der Antragsteller muss seine drohende Beweisnot substantiiert darlegen und glaubhaft machen. Mit Blick auf den Zeugenbeweis reicht der pauschale Vortrag, Zeugen seien an Krebs erkrankt, nicht aus, um eine drohende Beweisnot glaubhaft zu machen.
Das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG dient der Sicherung eines materiellen Individualrechts bzw. der Erweiterung der Rechtssphäre des Rechtsschutzsuchenden, nicht aber der Beweissicherung (Beschluss vom 08.04.2022 - S 21 U 418/22 ER, rechtskräftig).
Die Antragstellerin begehrte im Wege der Beweissicherung gemäß § 76 Abs. 1 SGG die Erhebung medizinischer und arbeitsmedizinischer Sachverständigengutachten und die Vernehmung von Zeugen. Das Gericht hat den Antrag abgelehnt. Die Voraussetzungen für die Durchführung eines Beweissicherungsverfahrens nach § 76 SGG lägen nicht vor. Die Antragstellerin habe eine drohende Beweisnot im Sinne des § 76 Abs. 1 Alt. 1 SGG weder für die Erhebung beweissichernder medizinischer und arbeitsmedizinischer Sachverständigengutachten noch für die Vernehmung von Zeugen substantiiert dargelegt oder glaubhaft gemacht im Sinne des § 487 Nr. 4 Zivilprozessordnung (ZPO). Der pauschale Vortrag, Zeugen bzw. die Antragstellerin selbst seien an Krebs erkrankt, reiche nicht aus, um eine drohende Beweisnot glaubhaft zu machen. Insbesondere sei keine aktuelle lebensbedrohliche Situation glaubhaft gemacht, die die selbstständige Zeugenvernehmung geboten erscheinen lasse.
Die Voraussetzungen von § 76 Abs. 1 Alt. 2 SGG lägen ebenfalls nicht vor, da für die von der Antragstellerin begehrte Einholung medizinischer und arbeitsmedizinischer Sachverständigengutachten kein berechtigtes Interesse an der Feststellung des gegenwärtigen Zustands einer Person oder Sache zu erkennen sei. Die von der Antragstellerin begehrten Feststellungen zum vorgetragenen Umgang der Antragstellerin mit diversen toxischen Stoffen im Zeitraum von 2001 bis 2020, welche krebserregend seien und adäquat kausal mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit den distalen Urothelkarzinomkrebs ausgelöst haben sollen, bezögen sich schon nicht auf einen gegenwärtigen, sondern auf einen in der Vergangenheit liegenden Zustand. Der Arbeitsplatz der Antragstellerin existiere wegen einer Verlegung ins Ausland nicht mehr und die Krebserkrankung der Antragstellerin erscheine nach einer zwischenzeitlich erfolgten Behandlung überwunden.
Als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG sei der Antrag ebenfalls unzulässig, weil ein solcher nicht statthaft sei. Das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG diene der Sicherung eines materiellen Individualrechts bzw. der Erweiterung der Rechtssphäre des Rechtsschutzsuchenden, nicht aber der Beweissicherung. Ein zu sicherndes materielles Individualrecht werde mit dem Antrag aber nicht aufgezeigt. Schließlich sei auch ein im Wege der einstweiligen Anordnung zu führendes selbständiges Beweisverfahren nicht im Gesetz vorgesehen.
3. Eine Klage, die sich gegen die Mitteilung eines Rehabilitationsträgers richtet, dass der Antrag gemäß § 14 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) an einen anderen Rehabilitationsträger weitergeleitet wurde, ist mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig (Gerichtsbescheid vom 12.04.2022 - S 6 R 2493/20).
Die Klägerin hatte bei der beklagten Rentenversicherung einen Antrag auf Gewährung einer stationären Rehabilitationsmaßnahme gestellt. Die Rentenversicherung leitete den Antrag fristgemäß binnen zwei Wochen an die Krankenversicherung der Klägerin weiter, da diese ihrer Auffassung nach der zuständige Rehabilitationsträger war. Gegen die Mitteilung über die Weiterleitung erhob die Klägerin Widerspruch, der von der Beklagten als unzulässig zurückgewiesen wurde, da es sich bei dem Mitteilungsschreiben nicht um einen Verwaltungsakt handele.
Die hiergegen erhobene Klage wurde als unzulässig abgewiesen, da der Klägerin für die begehrte Aufhebung der Bescheide und Bewilligung der begehrten Rehabilitationsmaßnahme das Rechtsschutzbedürfnis fehle. Dies ergebe sich zunächst aus der Systematik des § 14 SGB IX. Dieser bestimmt: Werden Leistungen zur Teilhabe beantragt, stellt der Rehabilitationsträger gemäß § 14 Abs. 1 S. 1 SGB IX innerhalb von 2 Wochen nach Eingang des Antrags bei ihm fest, ob er nach den für ihn geltenden Leistungsgesetzen zuständig ist. Stellt er bei der Prüfung fest, dass er für die Leistung nicht zuständig ist, leitet er den Antrag gemäß § 14 Abs. 1 S. 2 SGB IX unverzüglich dem seiner Auffassung nach zuständigen Rehabilitationsträger zu. Der zweitangegangene Rehabilitationsträger ist im Verhältnis zum behinderten Menschen endgültig zuständig.
Selbst wenn sich im Nachhinein eine materielle Zuständigkeit der Beklagten herausstellen sollte, betreffe dies nicht die Klägerin, sondern lediglich eine potentielle Erstattungsforderung zwischen den Sozialleistungsträgern. Auch aus diesem Grund sei die Klägerin durch die Weiterleitung selbst nicht beschwert. Mit der Weiterleitung des Antrags treffe der abgebende Rehabilitationsträger also keine Entscheidung über den Anspruch auf Leistungen zur Rehabilitation, es handele sich vielmehr um ein Verwaltungsinternum. Dass eine solche behördliche Verfahrenshandlung grundsätzlich nicht isoliert angefochten werden könne, entspreche einem anerkannten Rechtsgrundsatz. Zwar fehle im SGG eine dem § 44a Verwaltungsgerichtsordnung entsprechende Vorschrift. Gleichwohl könne nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auch für den sozialgerichtlichen Rechtsschutz nichts anderes gelten. Auch im sozialgerichtlichen Verfahren bestehe ein Interesse daran, den Abschluss von Verwaltungsverfahren nicht durch die isolierte Anfechtung von einzelnen Verfahrenshandlungen zu verzögern oder zu erschweren.
4. Ein Feststellungsinteresse im Rahmen einer Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit von Bescheiden zur Vorbereitung einer Amtshaftungsklage besteht jedenfalls dann nicht, wenn keine Änderung der ursprünglichen, gegen die Bescheide erhobenen Klage erfolgt, sondern mehrere Jahre später eine neue Klage erhoben wird und die Erledigung des ursprünglichen Rechtsstreits nicht auf einem außerhalb des Einflussbereichs der Kläger liegenden Ereignisses beruhte, sondern auf einem Vergleichsabschluss der Beteiligten (Urteil vom 28.03.2022 - S 28 AS 56/18, nicht rechtskräftig).
Die Kläger stehen im laufenden Bezug von Leistungen nach dem SGB II und bezogen bereits vor 2009 Leistungen. Ab dem 1. März 2009 erhielten sie zunächst aufgrund mehrerer Versagungs- und Ablehnungsbescheide keine Leistungen. Die Verfahren über die dagegen von den Klägern erhobenen Klagen wurden im Jahr 2014 jeweils durch den Abschluss eines Vergleichs beendet. Im Jahr 2018 haben die Kläger Klage erhoben und unter anderem die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Leistungsablehnung für die Zeit ab März 2009 begehrt.
Das Gericht hat die Klage abgewiesen. Es liege keine Erledigung vor, welche gegen eine Subsidiarität der Feststellungsklage spreche (unter Verweis auf BVerwG, Urteil vom 27. März 1998 - 4 C 14/96). Die Verfahren hätten die Beteiligten durch Vergleich erledigt, insoweit sei kein erledigendes Ereignis eingetreten. Die eigenständige Entscheidung, einen Rechtsstreit zu beenden und somit auch die rechtliche Bewertung der sachnäheren Gerichtsbarkeit zu entziehen, könne nicht gleichgesetzt werden mit dem Eintritt eines äußeren Ereignisses, auf welches die Kläger keinen Einfluss haben. Hierfür spreche auch, dass es sich in diesem Fall im Gegensatz zur Konstellation der Weiterführung einer Anfechtungs-, Leistungs- oder Verpflichtungsklage nicht um denselben Prozess handele, sondern um einen neuen Rechtsstreit. Auf Früchte eines bereits geführten Prozesses könne hier nicht aufgebaut werden, prozessökonomische Gründe lägen mithin nicht vor.
5. Für vorbeugenden Rechtsschutz ist ein qualifiziertes Rechtsschutzinteresse erforderlich, das insbesondere beinhaltet, dass der Betroffene nicht auf nachträglichen Rechtsschutz verwiesen werden kann (Beschluss vom 09.06.2022 - S 25 VS 1790/22 ER).
Bei dem Antragsteller ist ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) gem. § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) von 100 anerkannt. Im April 2022 teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit, es sei beabsichtigt, einen Aufhebungsbescheid für die Zukunft nach § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) zu erteilen und den GdS auf 70 herabzusetzen. Der Antragsteller begehrte im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes die Verpflichtung der Antragsgegnerin, bis zur Stellungnahme durch seine Rechtsanwältin keinen Herabsetzungsbescheid zu erlassen.
Der Antrag blieb ohne Erfolg. Vorliegend fehle es bereits am Rechtschutzinteresse mit der Folge der Unzulässigkeit des Antrags. Der Antragsteller habe in der Sache vorbeugenden Rechtschutz begehrt. Für vorbeugenden Rechtsschutz sei ein qualifiziertes Rechtsschutzinteresse erforderlich, das insbesondere beinhalte, dass der Betroffene nicht auf nachträglichen Rechtsschutz verwiesen werden könne. Es sei regelmäßig nachträglicher Rechtsschutz gegen die Herabsetzung des GdS möglich und ausreichend. Einstweiliger Rechtsschutz habe grundsätzlich nicht die Aufgabe, Rechtsfragen zu beantworten, die mit einer gegenwärtigen Notlage (noch) nichts zu tun hätten. Für den Fall, dass die Antragsgegnerin einen Herabsetzungsbescheid erlasse, stehe es dem Antragsteller frei, Widerspruch hiergegen einzulegen und – sofern dieser keine aufschiebende Wirkung entfalten sollte – einstweiligen Rechtsschutz nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG zu beantragen. Der Gang dieses vom Gesetzgeber vorgesehenen Weges sei für den Antragsteller nicht mit unzumutbaren Nachteilen verbunden.
IX. Vertragsarztrecht
1. Bei der Festsetzung eines Regresses wegen unzulässiger Verordnung von Arzneimitteln auf Cannabisbasis steht der Prüfungsstelle kein Ermessensspielraum zu (Gerichtsbescheid vom 24.02.2022 - S 12 KA 772/20, rechtskräftig).
Die klagende Krankenkasse beantragte beim beklagten Prüfungsausschuss die Festsetzung eines Regresses gegen den beigeladenen Vertragsarzt, da dieser ohne die nach § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V vorgeschriebene vorherige Genehmigung durch die Krankenkasse Dronabinol verordnet hatte. Die Prüfungsstelle setzte einen Regress in Höhe von 0 Euro fest und berief sich hierbei auf einen Ermessensspielraum.
Das Sozialgericht verurteilte die Prüfungsstelle dazu, den Regress in der beantragten Höhe festzusetzen. Bei Regressen wegen unzulässiger Arzneimittelverordnung, denen also ein sogenannter Basismangel zugrunde liege, bestehe nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes kein Raum für eine Ermessensbetätigung (BSG, Urteil vom 3. Februar 2010 – B 6 KA 37/08 R –, Rn. 43; BSG, Urteil vom 30. Oktober 2013 – B 6 KA 2/13 R –, Rn. 11 ff.; Urteil vom 11. September 2019 – B 6 KA 21/19 R –, Rn. 16). Hier könne eine Unwirtschaftlichkeit nur bejaht oder verneint werden. Von diesen Grundsätzen im vorliegenden Fall abzuweichen, bestehe kein Anlass, denn die Gesichtspunkte, die das BSG seiner Rechtsprechung zugrunde gelegt habe, gälten sämtlich auch hier.
2. Setzt die Kassenärztliche Vereinigung (KV) gegen einen Vertragsarzt einen Regress fest und verrechnet den Regressbetrag in den nachfolgenden Quartalen mit dem vertragsärztlichen Honorar, so handelt es sich bei den entsprechenden Belastungen in den Honorarbescheiden lediglich um buchhalterische Umsetzungen des Regresses ohne eigenständige rechtliche Beschwer. Gerichtlicher Rechtsschutz kann lediglich gegen den Regressbescheid erlangt werden. Für (einstweiligen) Rechtsschutz gegen die jeweiligen Honorarbescheide fehlt das Rechtsschutzbedürfnis (Beschluss vom 29.03.2022 - S 12 KA 2/22 ER, rechtskräftig).
Die KV setzte gegen den Antragsteller im Rahmen einer nachgehenden sachlich-rechnerischen Berichtigung einen Regress von 47.301,37 Euro fest und belastete diesen Betrag dem nächsten Quartalshonorarbescheid. Der Antragsteller beantragte beim Sozialgericht, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen den Honorarbescheid anzuordnen.
Das Sozialgericht entschied, für einstweiligen Rechtsschutz gegen den Honorarbescheid bestehe kein Rechtsschutzbedürfnis. Dieser berücksichtige lediglich rechnerisch die Überzahlung aufgrund des Honoraraufhebungs- und Neufestsetzungsbescheides, enthalte selbst aber keine eigenständige rechtliche Beschwer. Im Falle einer bestands- bzw. rechtskräftigen Aufhebung des Regressbescheides würde die durch ihn bewirkte Überzahlung rückwirkend entfallen mit der Folge, dass die Antragsgegnerin den Richtigstellungsbetrag dem Honorarkonto des Antragstellers wieder gutzuschreiben hätte.
3. Eine einprozentige Honorarkürzung bei einem Vertragsarzt, der den Anschluss an die sog. Telematikinfrastruktur im Quartal 1/2019 nicht durchgeführt hat, ist rechtmäßig. § 291 Abs. 2b Satz 3, Satz 14 SGB V aF verstoßen weder gegen Vorschriften der DSGVO noch gegen die Berufsausübungsfreiheit (Urteil vom 27.01.2022 - S 24 KA 166/20, Berufung beim LSG anhängig unter L 5 KA 620/22).
Zwischen den Beteiligten stand eine Honorarkürzung aufgrund der Nichtanbindung des Klägers, eines Facharztes für Allgemeinmedizin, an die Telematikinfrastruktur (TI) im Quartal 1/2019 in Streit. Bei der TI handelt es sich um eine Kommunikationsinfrastruktur im Gesundheitswesen zum sicheren elektronischen Austausch wichtiger medizinischer Daten. In einem ersten Schritt ging es um die Installation eines Konnektors und eines angeschlossenen Kartenlesegerätes in den Arztpraxen, mit denen bei der Behandlung eines Versicherten die auf der Gesundheitskarte gespeicherten Daten ausgelesen und elektronisch mit den bei der Krankenversicherung gespeicherten Daten abgeglichen werden sollten (Versichertenstammdaten-Abgleich).
Nachdem der Kläger der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung mitgeteilt hatte, dass er seine Praxis nicht an die TI anschließen werde, kürzte diese das vertragsärztliche Honorar des Klägers für das Quartal 1/2019 um ein Prozent, da der Gesetzgeber in den §§ 291 ff. SGB V die Grundlage zur Verpflichtung aller Vertragsärzte zur Anbindung an die TI bis zum 01.01.2019 festgesetzt habe.
Die dagegen gerichtete Klage des Vertragsarztes wies die Kammer ab. Die datenschutzrechtlichen und verfassungsrechtlichen Bedenken des Klägers verfingen nicht. Letztlich überwiege das öffentliche Interesse an der Verhinderung von Missbrauch von elektronischen Gesundheitskarten und damit an der Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Den Gesetzgeber treffe eine Beobachtungspflicht und gegebenenfalls die Pflicht zur Nachbesserung bei in der Praxis zu Tage tretenden Sicherheitslücken hinsichtlich des Datenschutzes.
4. Die Verordnung von Lyrica 300 mg Hartkapseln in einer weit über der zugelassenen Höchstdosis liegenden Dosierung stellt einen sog. Off-Label-Use dar, der zu einem Regress wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise gegen den verordnenden Arzt führen kann (Urteil vom 21.04.22 - S 24 KA 3852/20).
Der Kläger, ein Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, verordnete einer Patientin zur Behandlung neuropathischer Schmerzen über mehrere Quartale Lyrica 300 mg Hartkapseln in einer durchschnittlichen Dosierung von 7,7 Tabletten pro Tag; nach der Fachinformation lag die zugelassene Tagesmaximaldosis bei zwei Tabletten pro Tag. Für die entstandenen Mehrkosten nahmen ihn die beklagten Gemeinsamen Prüfungseinrichtungen Baden-Württemberg auf Antrag der Krankenkasse hin in Regress.
Die dagegen gerichtete Klage des Vertragsarztes wurde abgewiesen, da es sich nicht um einen Fall eines ausnahmsweise zulässigen Off-Label-Use handele. Die nach Rechtsprechung des Bundessozialgerichts dafür erforderlichen Voraussetzungen lägen hier nicht vor, da jedenfalls in den Jahren 2014 bis 2016 aufgrund der Datenlage keine begründete Aussicht bestanden habe, dass mit Lyrica 300 mg in der zwei- bis dreifachen Dosierung der zugelassenen Tageshöchstdosis ein Behandlungserfolg erzielt werden könne. Weder sei die Erweiterung der Zulassung von Lyrica für die hier verordnete Tagesdosis bereits beantragt gewesen noch Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden, die eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegt hätten. Auch hätten keine außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse vorgelegen, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in der vom Kläger verordneten Dosierung zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zugelassen hätten und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne bestanden hätte. Im Gegenteil habe die Fachinformation von Lyrica 300 mg den Hinweis enthalten, dass Fälle von nicht bestimmungsgemäßem Gebrauch, Missbrauch und Abhängigkeit berichtet worden seien.
X. Pflegeversicherung
Der Einbau einer Klimaanlage in eine Dachwohnung stellt keine wohnumfeldverbessernde Maßnahme im Sinne des § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB XI dar (Gerichtsbescheid vom 8. Februar 2022 - S 19 P 2557/21, rechtskräftig).
Die bei der Beklagten kranken- und pflegeversicherte, pflegebedürftige Klägerin bewohnt zusammen mit ihrem ebenfalls pflegebedürftigen Ehemann eine Dachwohnung. Sie beantragte bei der beklagten Pflegekasse wohnumfeldverbessernde Maßnahmen für den Einbau einer Klimaanlage in ihrem Aufenthaltsraum. Die Beklagte lehnte den Antrag nach Einholung eines MDK-Gutachtens mit der Begründung ab, der erforderliche Zusammenhang mit der Pflegebedürftigkeit sei nicht gegeben.
Das Gericht hat die Klage abgewiesen. Der Einbau einer Klimaanlage in die Dachwohnung der Klägerin stelle keine wohnumfeldverbessernde Maßnahme im Sinne des § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB XI dar, da hierdurch keine Anpassung der konkreten Wohnumgebung an die besonderen Bedürfnisse der pflegebedürftigen Klägerin erfolge, eine standardmäßige Nutzung der Wohnung möglich sei und es sich bei einer Klimaanlage um einen normalen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens handele, welcher weder speziell für die Bedürfnisse behinderter Menschen konzipiert worden sei noch überwiegend von diesem Personenkreis genutzt werde.