Die 2017 geborene Klägerin ist seit Geburt schwerstbehindert. Sie kann sich nur mit Hilfe von Orthesen fortbewegen und nicht einmal mit Brille dreidimensional sehen. Außerhalb der vertrauten Umgebung ist sie auf die Begleitung durch einen Erwachsenen angewiesen. Längere Strecken kann sie nur in einem Buggy sitzend bewältigen. Sie kann sich weder selbständig an- noch ausziehen und muss ständig Windeln tragen. Sie besucht eine sonderpädagogische Schule und hat Schwierigkeiten, angemessenen Kontakt mit anderen Kindern zu knüpfen. Außerhalb der Familie und der Schule verfügt sie über keine eigenen sozialen Kontakte.
Die Eltern der Klägerin beantragten im März 2023 beim beklagten Landkreis Heilbronn im Rahmen eines sogenannten persönlichen Budgets die Kostenübernahme für die Teilnahme an acht Ferienfreizeiten und 15 Tagesausflügen, welche von der “Offene Hilfen gGmbH“ in Heilbronn angeboten werden. Der Finanzierungsbetrag belaufe sich auf 6.850 €. Der beklagte Landkreis lehnte den Antrag ab, weil es sich bei der beantragten Kostenübernahme von Freizeitmaßnahmen nicht um Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX handele und zudem keine Vereinbarung mit der “Offene Hilfen gGmbH“ bestehe. Der Widerspruch hiergegen blieb erfolglos.
Die Eltern der Klägerin erhoben Klage zum Sozialgericht Heilbronn und trugen vor, ihre Tochter erfülle die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Eingliederungshilfe. Die Teilnahme an Tagesausflügen und Ferienfahrten sei erforderlich, um der Klägerin mit ihrem sehr hohen sonderpädagogischen Förderbedarf den Schulbesuch zu ermöglichen oder zumindest zu erleichtern. Die Klägerin habe aufgrund ihrer Behinderung nur im Rahmen der Ferienfreizeiten und Tagesausflüge die Möglichkeit, mit anderen Kindern in Kontakt zu treten und mit diesen Aktivitäten zu unternehmen, weil die Schule der Klägerin keine Ferienbetreuung anbiete. Der Umstand, dass der beklagte Landkreis keine Leistungsvereinbarung mit einem geeigneten Leistungserbringer abgeschlossen habe, könne nicht zulasten ihrer Tochter gehen.
Das Gericht wies die Klage als unbegründet ab. Zwar handele sich bei den streitgegenständlichen Leistungen um Leistungen der sozialen Teilhabe. Jedoch stehe einer Kostenübernahme durch den Beklagten entgegen, dass zumindest zum jetzigen Stand zwischen dem Beklagten und der zum Verfahren beigeladenen “Offene Hilfen gGmbH“ weder eine Leistungs- noch eine Vergütungsvereinbarung nach § 113 Abs. 1 S. 1 SGB IX bestehe. Diesbezüglich habe die Beigeladene selbst erklärt, dass erst Anfang Mai 2024 ein erstes informelles Gespräch mit dem Beklagten zur Vorbereitung einer derartigen Vereinbarung stattgefunden habe, mit deren Abschluss nicht vor Ende 2024 zu rechnen sei. Eine (nach altem Recht noch für möglich gehaltene) ausnahmsweise Übernahme der Kosten auch bei vertragslosem Zustand zwischen Eingliederungshilfeträger und Leistungserbringer komme schon deshalb nicht in Betracht, weil es sich im Fall der Klägerin nicht nur um eine vorübergehende Überbrückung bis zum Abschluss einer Vereinbarung, sondern um eine dauerhafte Vergütungsübernahme ohne vertragliche Grundlage für das komplette Jahr 2024 handele. Dies sei vor dem Hintergrund der Grundkonzeption des sozialhilferechtlichen Leistungserbringungsrechts, welches vorrangig eine Leistungsgewährung auf der Grundlage von Vereinbarungen vorsehe, nicht gerechtfertigt. Der Gesetzgeber habe mit dem Erfordernis des Abschlusses individueller Vereinbarungen Anreize für eine möglichst kostengünstige Leistungserbringung schaffen wollen. Die bereits mit Wirkung zum 01.01.2020 neugefassten Vorschriften, insbesondere in § 126 SGB IX, enthielten nun klare Regelungen, wie solche Vereinbarungen ggfs. auch unter Inanspruchnahme von Schiedsstellen zeitnah geschlossen werden könnten. Hierauf seien der beklagte Landkreis und insbesondere auch die Beigeladene zu verweisen, welche nach eigenem Bekunden die Kosten für ihre Leistungen vom Beklagten, sei es mittelbar an den Eingliederungshilfeempfänger oder unmittelbar an sie selbst, übernommen bzw. erstattet erhalten möchte. Es verwundere, weshalb es entgegen der aus den §§ 123f. SGB IX ersichtlichen gesetzgeberischen Konzeption erst im Mai 2024 und damit Jahre nach Inkrafttreten der maßgeblichen Vorschriften zu ersten informellen Gesprächen zwischen dem Beklagten und der Beigeladenen gekommen sei, um die Grundlage für eine Kostenübernahme von Leistungen wie den hier streitgegenständlichen Freizeitmaßnahmen als Leistungen der Eingliederungshilfe zu schaffen.
Az.: S 3 SO 2208/23, Urteil vom 26.06.2024, nicht rechtskräftig
Hinweis zur Rechtslage:
§ 90 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch [SGB IX]: Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. 2Die Leistung soll sie befähigen, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können.
§ 99 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch [SGB IX]: Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten Menschen mit Behinderungen im Sinne von § 2 Abs. 1 S. 1, die wesentlich in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind (wesentliche Behinderung) oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe nach § 90 erfüllt werden kann.
§ 102 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch [SGB IX]: (1) Die Leistungen der Eingliederungshilfe umfassen 1. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, 2. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, 3. Leistungen zur Teilhabe an Bildung und 4. Leistungen zur Sozialen Teilhabe. (2) Leistungen nach Absatz 1 Nummer 1 bis 3 gehen den Leistungen nach Absatz 1 Nummer 4 vor.
§ 113 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch [SGB IX]: (1) 1Leistungen zur Sozialen Teilhabe werden erbracht, um eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, soweit sie nicht nach den Kapiteln 3 bis 5 erbracht werden. 2Hierzu gehört, Leistungsberechtigte zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum sowie in ihrem Sozialraum zu befähigen oder sie hierbei zu unterstützen. (…) (2) Leistungen zur Sozialen Teilhabe sind insbesondere (…) 2. Assistenzleistungen, (…).
§ 123 Abs. 1, 2 und 5 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch [SGB IX]: (1) 1Der Träger der Eingliederungshilfe darf Leistungen der Eingliederungshilfe mit Ausnahme der Leistungen nach § 113 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 78 Abs. 5 und § 116 Abs. 1 durch Dritte (Leistungserbringer) nur bewilligen, soweit eine schriftliche Vereinbarung zwischen dem Träger des Leistungserbringers und dem für den Ort der Leistungserbringung zuständigen Träger der Eingliederungshilfe besteht. 2Die Vereinbarung kann auch zwischen dem Träger der Eingliederungshilfe und dem Verband, dem der Leistungserbringer angehört, geschlossen werden, soweit der Verband eine entsprechende Vollmacht nachweist. (2) 1Die Vereinbarungen sind für alle übrigen Träger der Eingliederungshilfe bindend. 2Die Vereinbarungen müssen den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Leistungsfähigkeit entsprechen und dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. 3Sie sind vor Beginn der jeweiligen Wirtschaftsperiode für einen zukünftigen Zeitraum abzuschließen (Vereinbarungszeitraum); nachträgliche Ausgleiche sind nicht zulässig. 4Die Ergebnisse der Vereinbarungen sind den Leistungsberechtigten in einer wahrnehmbaren Form zugänglich zu machen. (5) 1Der Träger der Eingliederungshilfe darf die Leistungen durch Leistungserbringer, mit denen keine schriftliche Vereinbarung besteht, nur erbringen, soweit 1. dies nach der Besonderheit des Einzelfalles geboten ist, 2. der Leistungserbringer ein schriftliches Leistungsangebot vorlegt, das für den Inhalt einer Vereinbarung nach § 125 gilt, 3. der Leistungserbringer sich schriftlich verpflichtet, die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Qualität der Leistungserbringung zu beachten, 4. der Leistungserbringer sich schriftlich verpflichtet, bei der Erbringung von Leistungen die Inhalte des Gesamtplanes nach § 121 zu beachten, 5. die Vergütung für die Erbringung der Leistungen nicht höher ist als die Vergütung,
die der Träger der Eingliederungshilfe mit anderen Leistungserbringern für vergleichbare Leistungen vereinbart hat.
(…) § 126 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch [SGB IX] (1) 1Der Leistungserbringer oder der Träger der Eingliederungshilfe hat die jeweils andere Partei schriftlich zu Verhandlungen über den Abschluss einer Vereinbarung gemäß § 125 aufzufordern. 2Bei einer Aufforderung zum Abschluss einer Folgevereinbarung sind die Verhandlungsgegenstände zu benennen. 3Die Aufforderung durch den Leistungsträger kann an einen unbestimmten Kreis von Leistungserbringern gerichtet werden. 4Auf Verlangen einer Partei sind geeignete Nachweise zu den Verhandlungsgegenständen vorzulegen. (2) 1Kommt es nicht innerhalb von drei Monaten, nachdem eine Partei zu Verhandlungen aufgefordert wurde, zu einer schriftlichen Vereinbarung, so kann jede Partei hinsichtlich der strittigen Punkte die Schiedsstelle nach § 133 anrufen. 2Die Schiedsstelle hat unverzüglich über die strittigen Punkte zu entscheiden. 3Gegen die Entscheidung der Schiedsstelle ist der Rechtsweg zu den Sozialgerichten gegeben, ohne dass es eines Vorverfahrens bedarf. 4Die Klage ist gegen den Verhandlungspartner und nicht gegen die Schiedsstelle zu richten. |
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gern an die Pressestelle des Sozialgerichts wenden:
Claudia Toberer (Pressesprecherin)
Richterin am Sozialgericht
Tel. 07131/7817-319
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