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(Wahl-)Feststellung eines Arbeitsunfalls bei schädigender Einwirkung innerhalb einer bestimmten, jedoch kalendermäßig nicht genau bestimmbaren Arbeitsschicht

Datum: 20.04.2017

Kurzbeschreibung:    

Der Kläger ist bei einem Automobilhersteller beschäftigt. Zu seinen Aufgaben gehört u. a., ungenau eingesetzte Vorder- oder Heckscheiben mittels eines Schneidedrahts zu lösen und neu in das Fahrzeug einzusetzen. Bei dem Vorgang, der von zwei Personen gemeinsam ausgeführt wird, ist etwa 10 bis 12 Mal neu anzusetzen und der Draht neu zu positionieren. Bei der Tätigkeit entstehen sehr hohe Zugkräfte von etwa 340 N bis über 500 N. Außerdem ist eine teilweise unergonomische Haltung einzunehmen. Die Tätigkeit bewirkt überdies eine starke, teilweise einseitige Belastung des Schultergelenks und der Schultermuskulatur. Üblicherweise schaffen die Mitarbeiter je Arbeitsschicht maximal den Aus- und Einbau von vier Scheiben.

Am 13. und 14.08.2015 war der Kläger für diese Tätigkeit an ein anderes Werk seines Arbeitgebers abgeordnet, um für eine Pressepräsentation etwa 25 Fahrzeuge instand zu setzen. An beiden Tagen waren deshalb je Arbeitsschicht etwa 8 Scheiben auswechseln. Am 15.08.2015 bemerkte der Kläger morgens eine Schwellung des gesamten rechten Armes und einen größeren blauen Fleck unterhalb des rechten Schultergelenks. Die behandelnden Ärzte diagnostizierten eine Ansatzruptur des Musculus pectoralis minor (= kleiner Brustmuskel) und eine Arm-Venen-Thrombose. Die beklagte Berufsgenossenschaft (BG) lehnte die Anerkennung eines Arbeitsunfalls mit der Begründung ab, der vom Kläger geschilderte Hergang sei eine willentlich gesteuerte kontrollierte Körperbewegung gewesen, was kein äußeres Ereignis im Sinne der gesetzlichen Definition eines Arbeitsunfalls darstelle.

Die deswegen zum Sozialgericht Karlsruhe erhobene Klage hatte Erfolg: für die äußere Einwirkung sei kein äußerliches, mit den Augen zu sehendes Geschehen zu fordern. Ausreichend sei auch eine übliche und selbstverständliche Einwirkung im Rahmen der versicherten Tätigkeit oder ein alltäglicher Vorgang, wie z.B. das Stolpern über die eigene Füße, Umknicken oder Aufschlagen auf den Boden. Der Kläger sei am 13. und am 14.08.2015 nicht nur einer höheren quantitativen, sondern auch einer höheren qualitativen, und damit einer außergewöhnlichen Arbeitsbelastung ausgesetzt gewesen. Nicht erheblich sei, dass er die Schneidevorgängen willentlich gesteuert habe. Denn auch in Fällen eines gewollten Handelns aufgrund einer ungewollten Einwirkung infolge einer Fehlbelastung oder eines sonstigen überraschenden Moments liege eine Einwirkung „von außen“ vor. Diese Einwirkung habe nach dem Ergebnis des gerichtlichen Sachverständigengutachtens auch zu dem Riss des kleinen Brustmuskels mit nachfolgender Thrombosierung der Axillarisvene geführt. Nicht relevant sei, dass sich nicht mit Sicherheit feststellen lasse, ob diese Gesundheitsstörungen konkret am 13. oder am 14.08.2015 eingetreten seien. Denn die Zugbelastung auf den Pectoralis-Muskel sei nach ärztlicher Feststellung bereits bei einer Wiederholung der Arbeitsvorgänge je Arbeitsschicht zu hoch gewesen. Zwar sei für die Annahme eines Arbeitsunfalls regelmäßig erforderlich, dass die zu einem Gesundheitsschaden führende Einwirkung innerhalb einer Arbeitsschicht aufgetreten sei. Sie müsse an einem bestimmten, jedoch nicht an einem kalendermäßig genau bestimmbaren Tag eingetreten sein. So liege der Fall hier (Urteil vom 20.04.2017 - S 1 U 904/16 -, rechtskräftig).

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