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Klägerin obsiegt nach Gutachterstreit - Sozialgericht gewährt Rente wegen Erwerbsminderung bei dissoziativer Identitätsstörung

Datum: 31.08.2022

Kurzbeschreibung: 

Sind die Einlassungen eines Patienten zu seinem psychischen Beschwerdekomplex glaubhaft, können diese als Befund einer psychiatrischen Begutachtung zugrunde gelegt und entsprechend von den Gerichten herangezogen werden. Dies entschied das Sozialgericht Karlsruhe im Fall einer 47-Jährigen und gewährte eine Erwerbsminderungsrente aufgrund einer dissoziativen Identitätsstörung.

Der von der zuständigen 9. Kammer zunächst mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragte Facharzt für Neurologie und Psychiatrie hatte diese für vollschichtig leistungsfähig gehalten. Eine psychische Störung sei bei der Klägerin wegen Fehlens objektivierbarer Befunde nicht zu diagnostizieren. Es sei vielmehr von einem bewussten Manipulationsversuch auszugehen. 

Auf Antrag der Klägerin holte die Kammer ein zweites Gutachten ein, das zu einem völlig anderen Ergebnis gelangte. Der Klägerin seien berufliche Tätigkeiten nur noch in einem Umfang von unter drei Stunden arbeitstäglich zuzumuten. Die 47-Jährige leide an einer dissoziativen Identitätsstörung und an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Diese Erkrankungen führten zu einer erheblichen Störung von Handlungskontrolle, Kommunikation, Gedächtnis und emotionaler Kontrolle. Die Klägerin habe ihre Beschwerden glaubhaft geschildert, Hinweise auf eine Simulation hätten sich nicht ergeben. 

Mit seinem in der vergangenen Woche veröffentlichen Urteil vom 12.08.2022 (S 9 R 2835/20) schloss sich das Sozialgericht Karlsruhe der Einschätzung des zweiten Sachverständigen an und gab der Klägerin Recht. Ihr stehe ein Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung zu. Die Kammer sei davon überzeugt, dass die Klägerin an einer dissoziativen Identitätsstörung leide und deshalb voll erwerbsgemindert sei. Das Gericht erachte den Beschwerdevortrag der Klägerin entgegen der Beurteilung des ersten Sachverständigen als glaubhaft. Diese Einschätzung werde auch von den behandelnden Ärzten gestützt.

Danach wechsele die Klägerin zu unvorhersehbaren Zeiten und Umständen in eine von mehreren kindlichen Persönlichkeiten, z. B. in die Persönlichkeit des „verspielten Kindes“, in diejenige des „ängstlichen Kindes “ oder in diejenige des „weinerlichen Kindes“. Sobald die Klägerin eine solche kindliche Persönlichkeit angenommen habe, sei sie – eben wie eine Minderjährige – nicht erwerbsfähig.

Das Urteil ist nicht rechtskräftig; es kann von den Beteiligten mit der Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg in Stuttgart angefochten werden.


Hinweise auf einschlägige Rechtsvorschriften

Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) – Gesetzliche Rentenversicherung

§ 43 SGB VI – Rente wegen Erwerbsminderung

(1) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie

1.         teilweise erwerbsgemindert sind,

2.         in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und

3.         vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

(2) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie

1.         voll erwerbsgemindert sind,

2.         in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und

3.         vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. 

 

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