I. Arbeitslosenversicherung
Gerichtsbescheid vom 12.07.2024 (S 5 AL 3656/22; rechtskräftig)
a. Leitsatz
1. Versicherungswidriges Verhalten liegt nach § 159 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III (Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe) vor, wenn der Arbeitslose das Beschäftigungsverhältnis gelöst und dadurch vorsätzlich oder grob fahrlässig die Arbeitslosigkeit herbeigeführt hat. An hinreichend konkreten Aussichten auf einen Anschlussarbeitsplatz fehlt es, wenn dem Bewerber keine konkrete Einstellungszusage gegeben wurde und eine positive Zusage noch von einer Zusage eines Geschäftspartners des potentiellen Arbeitgebers abhängig ist.
2. Die Entfernung zwischen Wohn- und Arbeitsort stellt jedenfalls dann keinen wichtigen Grund dar, wenn diese ausschließlich auf den eigenverantwortlichen Entscheidungen des Arbeitslosen beruht, nämlich eine Beschäftigung abseits seines „Herkunftsortes“ aufzunehmen, seine sodann am Beschäftigungsort gemietete Wohnung aufzugeben sowie nach dem Ende der Corona-Pandemie und der Rückkehr in die Präsenzarbeit nicht wieder einen Wohnsitz am Beschäftigungsort zu nehmen.
b. Sachverhalt
Zwischen den Beteiligten war der Eintritt einer Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe von zwölf Wochen streitig. Der Kläger nahm 2018 eine unbefristete Beschäftigung mit Beschäftigungsort F. auf. Zuletzt war er dort als Associate bzw. Projektmanager mit einem Bruttoentgelt von monatlich 7.100,00 € zuzüglich Boni bzw. Sonderzahlungen tätig. Arbeitsvertraglich bestand die Vereinbarung, dass sämtliche Überstunden mit dem Entgelt abgegolten seien. Kurz nach Beginn seiner Tätigkeit bei der Arbeitgeberin mietete sich der Kläger eine Wohnung in F. an, die er während der Corona-Pandemie aufgab. Er zog zurück zu seinen Eltern nach Baden-Württemberg. Der Kläger kündigte das Arbeitsverhältnis zum 31.07.2022 und meldete sich zum 01.08.2022 bei der Beklagten arbeitslos. Die Beklagte stellte den Eintritt einer Sperrzeit vom 01.08.2022 bis 23.10.2022 sowie das Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld fest. Nach erfolglosem Widerspruch erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht. Die Arbeitsbelastung und das Pendeln habe für ihn eine nicht nachhaltige und nicht mehr stemmbare Belastung dargestellt, welcher zwangsläufig nur mit einer Kündigung entgegenzuwirken gewesen sei. Ein ärztliches Attest oder ein medizinischer Nachweis liege nicht vor, da er sich seiner Verfassung bewusst gewesen sei und er eine Langzeitkrankschreibung oder ähnliches habe vermeiden wollen. Das Nichtzustandekommen einer neuen Anstellung liege nicht in seinem Verantwortungsbereich. Es sei für ihn nicht zumutbar gewesen, das Beschäftigungsverhältnis fortzusetzen.
c. Entscheidung
Das Sozialgericht wies die Klage ab. Die Beklagte habe zutreffend den Eintritt einer Sperrzeit von zwölf Wochen festgestellt. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld ruhe nach § 159 Abs. 1 Satz 1 SGB III für die Dauer einer Sperrzeit, wenn sich ein Arbeitnehmer versicherungswidrig verhalten habe, ohne dafür einen wichtigen Grund zu haben. Versicherungswidriges Verhalten liege nach § 159 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III (Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe) vor, wenn der Arbeitslose das Beschäftigungsverhältnis gelöst und dadurch vorsätzlich oder grob fahrlässig die Arbeitslosigkeit herbeigeführt habe. Der Kläger habe hier durch die Kündigung seines unbefristeten Arbeitsverhältnisses sein Beschäftigungsverhältnis gelöst und damit mangels konkreter Anhaltspunkte für ein Anschlussarbeitsverhältnis zum 01.08.2022 seine Arbeitslosigkeit jedenfalls grob fahrlässig herbeigeführt. Zwar habe der Kläger geltend gemacht, dass er im ersten Halbjahr 2022 fortgeschrittene Gespräche mit einer Firma geführt habe, deren Geschäftsführer ihm eine mündliche positive Zusage erteilt habe, noch die Zusage des Geschäftspartners aus London gefehlt habe und es zu dem Gespräch mit dem Geschäftspartner in London aus ihm unerklärlichen Gründen nicht gekommen sei. Seit Mitte Mai 2022 habe er von dieser Firma nichts mehr gehört. Gegenüber der Beklagten habe der Kläger eingeräumt, dass es eine konkrete Einstellungszusage nicht gegeben habe. Der Kläger habe unter diesen Umständen keine hinreichend konkreten Aussichten auf einen Anschlussarbeitsplatz gehabt.
Der Kläger könne sich nicht auf einen wichtigen Grund berufen. Eine Sperrzeit solle nur eintreten, wenn dem Versicherten unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung seiner Interessen mit den Interessen der Versichertengemeinschaft ein anderes Verhalten zugemutet werden könne. Dies sei nicht nach den subjektiven Vorstellungen des Arbeitslosen zu beurteilen, ein wichtiger Grund im Sinne des Sperrzeitrechts müsse vielmehr objektiv gegeben sein. Ein wichtiger Grund liege nicht vor. Eine rechtmäßige bzw. sozial gerechtfertigte arbeitgeberseitige Kündigung habe dem Kläger nicht gedroht. Die Kündigung habe auch nicht der Herstellung oder Wiederherstellung einer ehelichen Lebensgemeinschaft und Lebenspartnerschaft gedient; der Kläger sei ledig und wohne bei seinen Eltern. Die geltend gemachten gesundheitlichen Gründe seien nicht ansatzweise nachvollziehbar. Der Kläger habe zu keiner Zeit einen Arzt aufgesucht und die Eigenkündigung nicht auf ärztlichen Rat ausgesprochen. Schließlich begründe auch die Entfernung zwischen Wohn- und Arbeitsort keinen wichtigen Grund. Denn diese beruhe ausschließlich auf den eigenverantwortlichen Entscheidungen des Klägers, eine Beschäftigung in F. abseits seines „Herkunftsortes“ in Württemberg aufzunehmen, seine sodann am Beschäftigungsort gemietete Wohnung in F. aufzugeben und nach dem Ende der Corona-Pandemie und der Rückkehr in die Präsenzarbeit in F. nicht wieder einen Wohnsitz zu nehmen. Unter diesen Umständen sei die Sperrzeit auch nicht von zwölf auf sechs Wochen zu verkürzen (§ 159 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2b SGB III).
II. Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Gerichtsbescheid vom 22.01.2024 (S 25 AS 413/21, rechtskräftig)
a. Leitsätze
1. Die bloße Zahlungsunfähigkeit eines Schuldners oder ungünstige wirtschaftliche Verhältnisse begründen keine sachliche Unbilligkeit der Beitreibung einer Forderung i.S.d. § 44 SGB II.
2. Der Verweis darauf, durch die COVID-19 Pandemie massive Umsatzausfälle erlitten zu haben, ist im Regelfall nicht geeignet, um das Vorliegen einer persönlichen Härte zu begründen.
3. Ein Forderungserlass aus Billigkeitsgründen setzt voraus, dass sich dieser auf die wirtschaftliche Situation des Schuldners konkret positiv auswirken kann. Lebt der Schuldner in wirtschaftlichen Verhältnissen, die eine Durchsetzung von Ansprüchen aus dem Rechtsverhältnis zum Jobcenter ausschließen, kann ein Erlass hieran nichts ändern und wäre aus diesem Grunde nicht mit einem wirtschaftlichen Vorteil für den Schuldner verbunden. Es ist im Einzelfall zu prüfen, ob stattdessen eine Stundung der Forderung in Betracht kommt, weil ein vorübergehender Zahlungsaufschub ausreicht, um den Interessen des Leistungsempfängers Rechnung zu tragen.
b. Sachverhalt
Die Beteiligten stritten über den Erlass einer Darlehensrückforderung. Nachdem der Kläger aus dem Leistungsbezug nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch ausgeschieden war, wurde er von der Beklagten zur Rückzahlung von ihm zuvor bestandskräftig darlehensweise gewährten Leistungen aufgefordert. Sein Antrag auf den Erlass der Forderung wurde von der Beklagten abgelehnt. Ein Erlass der Forderung komme nur in Betracht, wenn deren Geltendmachung unbillig wäre. Ein sachlicher Grund für die Annahme einer Unbilligkeit sei nicht zu erkennen.
Hiergegen wandte sich der Kläger an das Sozialgericht und machte u.a. geltend, dass sich die Forderungseinziehung als unbillig darstelle, da diese für ihn eine unzumutbare Härte bedeute. Er sei Inhaber einer Café-Bar und habe seit dem Beginn der Corona-Krise massive Umsatzausfälle erleiden müssen.
c. Entscheidung
Das Sozialgericht wies die Klage ab, weil es eine Unbilligkeit der Forderungseinziehung ebenso wenig feststellen konnte, wie das Vorliegen einer unzumutbaren Härte.
2. Beschluss vom 23.04.2024 (S 22 AS 1060/24 ER, rechtskräftig)
a. Leitsatz
§ 28 Abs. 5 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) bildet die Rechtsgrundlage für Leistungen zur Lernförderung. Danach wird bei Schülerinnen und Schülern eine schulische Angebote ergänzende angemessene Lernförderung berücksichtigt, soweit diese geeignet und zusätzlich erforderlich ist, um die nach den schulrechtlichen Bestimmungen festgelegten wesentlichen Lernziele zu erreichen. Maßgebend für die Beurteilung, ob diese erforderlich ist, sind die nach den schulrechtlichen Bestimmungen festgelegten wesentlichen Lernziele. Wesentliches Lernziel in der jeweiligen Klassenstufe ist nach der Gesetzesbegründung regelmäßig die Versetzung in die nächste Klassenstufe bzw. ein ausreichendes Leistungsniveau. Wegen des Nachranggebots der Grundsicherung nach § 1 Abs. 2 Satz 2 SGB II sind schulische Angebote vorrangig zu nutzen.
b. Sachverhalt
Der Vater des Antragstellers hatte für sein Kind beim Jobcenter (Antragsgegner) Lernförderung in Form eines Lerncoachings in den Fächern Deutsch und Mathematik mit einem monatlichen Betrag i. H. v. 220,00 € beantragt. Der Antragsteller habe viele Fehlzeiten gehabt und nun entsprechenden Förderbedarf. Der Antragsgegner forderte den Vater in der Folgezeit auf, eine schriftliche Einschätzung der Schule vorzulegen, ob der Antragsteller versetzungsgefährdet sei. Der Vater vertrat hingegen die Ansicht, dass es darauf nicht ankomme. Zudem sei das Ausfüllen des Fragebogens durch die Schule diskriminierend. Der Antragsteller ginge auf eine freie Schule, in der es keine Schulnoten gebe. Es reiche aus, dass der Wunsch bestehe, sich zu verbessern. Den Antrag lehnte der Antragsgegner ab, da der Antragsteller bzw. dessen Vater der Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen sei und entsprechende Nachweise zum Bedarf der Lernförderung der freien Schule und der inzwischen besuchten staatlichen Grundschule nicht vorgelegt hätte. Dagegen hat der Antragsteller Klage erhoben und zugleich Eilrechtsschutz begehrt. Ohne Lernhilfe i.S.d. § 28 Abs. 5 SGB II seien die Lernziele für den Antragsteller nicht erreichbar; er erlerne das Einmaleins nicht korrekt. Der Antragsteller gehe gerne in die Nachhilfe im Gegensatz zur Schule. Auf die Versetzungsgefährdung komme es nicht an.
c. Entscheidung
Die Kammer lehnte den Antrag auf Eilrechtsschutz ab. Für einen Anspruch auf Lernförderung sei maßgeblich, ob eine außerschulische Lernforderung im Sinne von § 28 Abs. 5 SGB II erforderlich sei, um die nach den schulrechtlichen Bestimmungen festgelegten wesentlichen Lernziele zu erreichen. Wesentliches Lernziel in der jeweiligen Klassenstufe sei regelmäßig die Versetzung in die nächste Klassenstufe bzw. ein ausreichendes Leistungsniveau. Es dürfe sich beim Nachhilfeunterricht nicht um ein schulisches Angebot handeln. In Betonung des Nachranggebots der Grundsicherung (vgl. § 1 Abs. 2 Satz 2 SGB II) seien schulische Angebote aber vorrangig zu nutzen. Mit anderen Worten stehe vor der Leistungspflicht des Antragsgegners für außerschulischen Nachhilfeunterricht die Wahrnehmung der schulischen Fördermaßnahmen durch den Antragsteller. Weiterhin erfahre der Anspruch nach § 28 Abs. 5 SGB II in zeitlicher Hinsicht Einschränkungen. Wenn bei einem Schüler ein Bedarf an längerfristiger Lernförderung festgestellt werde, könne regelmäßig auch dann nur eine Prognose mit Blick auf das konkrete Schuljahresende abgegeben werden. Für das neue Schuljahr sei eine neue Prognose anzustellen, bei der der länger währende Lernförderungsbedarf zu berücksichtigen sei.
Vorliegend habe der Antragsteller einen entsprechenden Förderbedarf nicht glaubhaft gemacht. Das Gericht hatte bereits Zweifel daran, ob das seinerzeit wahrgenommene Coaching eine angemessene Lernförderung darstelle, die auch geeignet und zusätzlich erforderlich gewesen sei, um die nach den schulrechtlichen Bestimmungen festgelegten wesentlichen Lernziele des Kindes zu erreichen. Entscheidend berücksichtigte die Kammer, dass der gesetzliche Vertreter des Antragstellers trotz mehrmaliger Aufforderung durch den Antragsgegner sowie durch das Gericht weder eine aussagekräftige Stellungnahme der bisherigen freien Schule und der aktuellen Grundschule konkret zum Leistungsniveau des Anatragstellers noch zu den bisherigen Bemühungen, von der Schule geeignete Förderleistungen zu erhalten, vorgelegt habe. Im Gegenteilt habe sich der Vater geweigert, eine solche konkret einzuholen, da er nicht wollte, dass die Schulen von dem Leistungsbezug nach dem SGB II erfahren. Folglich seien – so die Kammer – dem Gericht entsprechende Ermittlungen verwehrt.
3. Urteil vom 26.06.2024 (S 25 AS 1986/21, rechtskräftig)
a. Leitsätze
1. Die Beschaffung von FFP2-Masken stellt in der Regel keinen, im Einzelfall unabweisbaren Bedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) dar, weil dieser durch Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach nicht erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Daher ist es einem Leistungsempfänger in der Regel zumutbar, die Ausgaben für Masken von dem im Regelbedarf enthaltenen Anteil für Gesundheitspflege zu decken.
2. Der vom Gesetzgeber für Leistungsempfänger nach dem SGB II zum Ausgleich der pandemiebedingten Sonder- und Mehrbedarfe für den Zeitraum vom 01.01.2021 bis zum 30.06.2021 zusätzlich gewährte pauschalierte Leistungsanspruch nach § 70 SGB II (Gesetz vom 10.03.2021, BGBl I 335) i.H.v. 150,00 € begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
b. Sachverhalt
Die Beteiligten stritten über die Gewährung eines Mehrbedarfs für die Anschaffung von FFP2-Masken im Rahmen des Bezugs von Leistungen nach SGB II. Der Kläger stand im streitgegenständlichen Zeitraum vom 01.02.2021 bis 28.02.2021 im Leistungsbezug nach dem SGB II. Während des Bezuges beantragte er bei der Beklagten die Erstattung von Kosten für die Anschaffung von FFP2-Schutzmasken, die er bereits beschafft hatte, und machte insoweit die Erstattung von 129,00 € monatlich geltend. Hierbei berief er sich auf einen Beschluss des SG Karlsruhe vom 11.02.2021 (S 12 AS 213/21 ER). Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers unter Verweis darauf ab, dass die beantragten Kosten aus dem Regelbedarf zu bestreiten seien. Hiergegen wandte sich der Kläger im sozialgerichtlichen Klageverfahren und machte geltend, dass die beantragten Masken vom bisher geleisteten Regeldarf umfasst seien und ein entsprechender Bedarf, insbesondere beim Einkaufen und Bewegen im öffentlichen Raum bestehe, da dies nach den Regelungen des Landes und Bundes nur unter Benutzung der FFP2-Masken möglich sei.
c. Entscheidung
Das Sozialgericht wies die Klage ab, weil es einem Empfänger von Leistungen nach dem SGB II in der Regel zumutbar sei, die Ausgaben für die Beschaffung von FFP2-Masken von dem im Regelbedarf enthaltenen Anteil für Gesundheitspflege zu decken. Ein weiterer Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II neben der zum Ausgleich der pandemiebedingten Sonder- und Mehrbedarfe für den Zeitraum vom 01.01.2021 bis zum 30.06.2021 nach § 70 SGB II (Gesetz vom 10.03.2021, BGBl I 335) gewährten Pauschale i.H.v. 150,00 € stehe dem Kläger nicht zu.
4. Urteil vom 26.06.2024 (S 25 BK 497/24, rechtskräftig)
a. Leitsätze
1. Der unbestimmte Rechtsbegriff des „Angewiesenseins“ auf die Schülerbeförderung nach § 28 Abs. 4 SGB II ist gerichtlich voll überprüfbar. Es ist zu fragen, ob es der Schülerin oder dem Schüler zumutbar ist, den Weg zur Schule ohne (Zusatz-)Kosten auslösende Beförderungsmittel (Bus, Bahn etc.) zurückzulegen (z.B. zu Fuß oder mit dem Fahrrad). Dabei können im Ausgangspunkt grundsätzlich pauschale Entfernungswerte – wie sie z.B. in landesrechtlichen Regelungen festgelegt sind – berücksichtigt werden.
2. Im Übrigen ist die Frage der Zumutbarkeit anhand der individuellen örtlichen Besonderheiten (Entfernung, Zeitaufwand, Gefährlichkeit des Weges etc.) und der persönlichen Umstände des Schülers (z.B. Alter des Schülers, etwaige körperliche Beeinträchtigungen, Erforderlichkeit des regelmäßigen Transportes größerer Gepäckstücke) zu beantworten. Je älter die Schülerinnen und Schüler sind, desto längere Wege sind ihnen im Regelfall zu Fuß oder mit dem Fahrrad zumutbar.
b. Sachverhalt
Der Kläger begehrt die Übernahme von Schülerbeförderungskosten für den Besuch eines Gymnasiums seiner beiden zwölf und 15 Jahre alten Kinder. Der Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass die beiden Kinder für den Besuch der nächstgelegenen Schule des gewählten Bildungsgangs nicht auf eine Schülerbeförderung angewiesen seien. Dies sei nach einer Richtlinie des Landratsamts Böblingen erst ab einer Entfernung von drei Kilometern zwischen Wohnort und Schule der Fall. Die einfache Entfernung zwischen dem Wohnort und dem von den beiden Kindern besuchten Gymnasium betrage nur 2,08 Kilometer, womit die Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung nicht erfüllt seien. Hiergegen wandte sich der Kläger an das Sozialgericht und machte u.a. geltend, dass der Schulweg mehrere Ampeln und die Überquerung einer mehrspurigen Straße beinhalte, was große Gefahren mit sich bringe.
c. Entscheidung
Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen, weil es die Notwendigkeit einer Schülerbeförderung für die zwölf- und 15-jährigen Gymnasiasten nicht erkennen konnte. Besondere Umstände wie eine besondere Gefahrenlage, körperliche oder geistige Behinderungen lägen nicht vor.
III. Rentenversicherung
1. Urteil vom 25.03.2024, S 16 R 1673/22 (rechtskräftig)
a. Leitsatz
Zur Weitergewährung einer befristeten Erwerbsminderungsrente bei einer Autismus-Erkrankung.
b. Sachverhalt
Der Kläger führte bereits im Jahr 2019 ein Verfahren auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Aufgrund eines Gutachtens endete der Rechtsstreit durch die Annahme eines Teilanerkenntnisses der Beklagten am 28.4.2020. Nachdem der Kläger die Weitergewährung der Erwerbsminderungsrente beantragt hatte, ließ die Beklagte ihn im Verwaltungsverfahren begutachten. Der Gutachter der Beklagten stellte beim Kläger „Schauspielkünste" fest und die Beklagte lehnte die Weitergewährung der Erwerbsminderungsrente ab.
c. Entscheidung
Die Kammer gab der Klage statt und verurteilte die Beklagte zur befristeten Weitergewährung der Rente wegen voller Erwerbsminderung. Der Kläger leide nach Überzeugung des Gerichts im Wesentlichen an einer mittelschweren bis schweren Störung der Persönlichkeit im Sinne einer Autismus-Spektrum-Erkrankung sowie einer komplexen Gangstörung bei Nachweis einer Störung der peripheren Nerven im Sinne einer Polyneuropathie und einer somatoformen Schmerzstörung. Die Kammer stützte sich auf das Sachverständigengutachten aus dem vorherigen Gerichtsverfahren, dem die Beklagte selbst gefolgt sei. Es lägen derart gravierende Beeinträchtigungen auf nervenärztlichem Fachgebiet vor, dass eine Leistungsminderung auf unter drei Stunden arbeitstäglich gegeben sei. Das Gutachten aus dem Verwaltungsverfahren war dagegen für die Kammer nicht nachvollziehbar. Was als Beschwerdeaggravation und nichtauthentische Antworten von der Beklagten gewertet werde, sei durch die autistische Persönlichkeitsstörung des Klägers bedingt.
2. Urteil vom 07.05.2024, S 17 BA 423/20 (rechtskräftig)
a. Leitsatz
Zur Abgrenzung einer abhängigen Beschäftigung von einer selbstständigen Tätigkeit als medienpädagogische Referentin, hier: abhängige Beschäftigung.
b. Sachverhalt
Der Kläger bietet Lehrkräften, Schülern, Eltern sowie Senioren und Schulträgern (außerschulische) Angebote aus dem Bereich der Medienbildung an. Vermittelt werden Kenntnisse und Kompetenzen aus dem Bereich des Jugendmedienschutzes. Dazu gehören beispielsweise Workshops für Schüler zur Nutzung sozialer Medien oder des Internets, zur Nutzung von Smartphones und Apps sowie zu Themen wie Cybermobbing. Die Beigeladene war für den Kläger als medienpädagogische Referentin tätig. Sie führte Medienworkshops an verschiedenen Schulen im Rahmen verschiedener Programme durch. Sie beantragte bei der Beklagten die Feststellung, dass ein Beschäftigungsverhältnis nicht vorliege. Die Beklagte stellte mit Bescheid fest, dass die Tätigkeit im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt werde. Es bestehe Versicherungspflicht in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid zurück, woraufhin der Kläger Klage zum Sozialgericht Stuttgart erhob.
c. Entscheidung
Das Sozialgericht wies die Klage ab. Die im Rahmen von § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV vorzunehmende Abwägung der Indizien ergebe ein Überwiegen der Merkmale, die für eine abhängige Beschäftigung sprächen. Die Abgrenzung zwischen Beschäftigung und Selbstständigkeit erfolge nicht abstrakt für bestimmte Berufs- und Tätigkeitsbilder. Es sei daher möglich, dass ein Beruf – je nach konkreter Ausgestaltung der vertraglichen Grundlagen in ihrer gelebten Praxis – entweder in Form der Beschäftigung oder als selbstständige Tätigkeit ausgeübt werde. Auch aus § 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI, der eine Versicherungspflicht (auch) für selbstständig tätige Lehrer anordne, werde deutlich, dass Lehrkräfte grundsätzlich abhängig beschäftigt, aber auch selbstständig tätig sein könnten. Ausgehend von den vertraglichen Abreden unterliege die Beigeladene einem inhaltlichen Weisungsrecht des Klägers. Sie habe die zur Verfügung gestellten Foliensätze, die Logos des Klägers und des jeweiligen Programms verwenden, auf die Programme, den Kläger und die Träger hinweisen und Feedbackbögen verwenden müssen. Sie habe Berichtspflichten unterlegen, Teilnehmerlisten und Kursergebnisse übersenden müssen. Innerhalb diese Rahmens habe die Beigeladene die Inhalte zwar frei gestalten können, sie könne jedoch im Rahmen von Qualitätssicherungsmaßnahmen durch den Kläger evaluiert werden, was in der Vergangenheit auch erfolgt sei. Auch die von ihr verwendeten Materialien habe der Kläger freigegeben. Zudem sei die Beigeladene in die betriebliche Organisation des Klägers eingebunden gewesen. Die Organisation der Einsätze sei durch den Kläger erfolgt, der maßgeblich nach außen aufgetreten sei und die Abrechnung übernommen habe. Die Beigeladene nehme – wie Angestellte – an Treffen und Fortbildungen teil und bringe Ideen für die Weiterentwicklung der Programme ein. Ein wesentliches unternehmerisches Risiko habe die Kammer nicht erkennen können. Insbesondere habe die Beigeladene keine Möglichkeit gehabt, selbst Schulen für Workshops zu akquirieren, und habe für die hier maßgeblichen Einzeleinsätze jeweils eine fixe Vergütung erhalten.
3. Urteil vom 16.05.2024, S 15 R 1145/23 (rechtskräftig)
a. Leitsatz
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation beinhalten nicht die Kostenübernahme für die Mitnahme von Hunden.
b. Sachverhalt
Die Klägerin begehrte mit ihrer Klage die Kostenübernahme der Beklagten für die Mitnahme ihrer beiden Hunde (Chihuahuas) zu einer stationären medizinischen Rehabilitation. Die Klägerin leidet an einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung. Die Beklagte bewilligte der Klägerin eine stationäre Leistung zur medizinischen Rehabilitation, lehnte jedoch die Kostenübernahme für die dortige Unterbringung der Hunde ab. Die Kosten für die Mitnahme der Hunde stünden nicht in direktem Zusammenhang mit der für die Klägerin erforderlichen Leistung zur medizinischen Rehabilitation, sondern entstünden letztlich als Tierhalter aus rein persönlichen bzw. privaten Gründen. Es handele sich auch nicht um Therapiehunde. Die Beklagte sei der Klägerin schon insoweit entgegengekommen, als dass sie eine Rehabilitationsklinik ausgesucht habe, die die Mitnahme von Hunden anbiete. Hiergegen wandte sich die Klägerin im sozialgerichtlichen Klageverfahren und trug vor, für den Therapieerfolg sei eine Trennung der Hunde zu vermeiden. Ihre Hunde seien die einzigen verlässlichen und liebevollen Beziehungen, die sie habe. Sie könne sich nicht vorstellen, einige Wochen von ihnen getrennt zu sein.
c. Entscheidung
Das Gericht wies die Klage ab. Ein Anspruch der Klägerin auf Kostenübernahme für die Mitnahme der Hunde in die Reha-Klinik lasse sich aus der Vorschrift des § 13 Abs. 1 Satz 1 SGB VI nicht ableiten. Die Beklagte habe ihr nach § 13 Abs. 1 SGB VI i.V.m. § 8 SGB IX eingeräumtes Ermessen pflichtgemäß ausgeübt und dabei berücksichtigt, dass die Mitnahme von Hunden in die ausgewählte Rehabilitationseinrichtung erlaubt sei. Eine Ermessensreduktion auf Null komme nicht in Betracht, da nach § 8 Abs. 1 SGB IX lediglich Wünsche der Versicherten zu berücksichtigen seien, ein derartiger Wunsche jedoch nicht zu einer Ermessensreduktion auf Null führen könne. Eine anderweitige Anspruchsgrundlage für das Begehren der Klägerin sei nicht ersichtlich. Die Kostenübernahme für die Mitnahme der Hunde falle nicht in den Verantwortungsbereich der Beklagten, sondern die Kosten seien vielmehr der Klägerin selbst zuzurechnen. Sie seien als Teil der privaten Lebensführung anzusehen.
4. Urteil vom 11.06.2024, S 17 R 940/23 (rechtskräftig)
a. Leitsatz
Eine Aufrechnung nach §§ 51 Abs. 1, 54 Abs. 4 SGB I i.V.m. § 850f Abs. 2 ZPO durch den Rentenversicherungsträger setzt jedenfalls voraus, dass ein Titel vorliegt, aus dem sich die Voraussetzung einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung ergibt. Ein abstraktes Schuldanerkenntnis genügt dem nicht, da kein direkter rechtlicher Zusammenhang zwischen der etwaigen zugrundeliegenden Handlung und der abstrakten Forderung aus dem Schuldanerkenntnis besteht.
b. Sachverhalt
Der Kläger wandte sich gegen die seitens der beklagten Rentenversicherung vorgenommene Neuberechnung seiner Altersrente nach einer Aufrechnung. Im Jahr 2000 kam es zu einem Vorfall zwischen dem Kläger und einer weiteren Person. Unterlagen hierzu liegen der Beklagten nicht mehr vor. In der Folge gab der Kläger u.a. gegenüber der Beklagten ein Schuldanerkenntnis ab. In der Folgezeit versuchte Aufrechnungen scheiterten, da kein pfändbarer Betrag vorhanden war. Nach Anhörung des Klägers nahm die Beklagte eine Aufrechnung vor. Gemäß §§ 51 Abs. 1, 54 Abs. 4 SGB I i.V.m. § 850f Abs. 2 ZPO könne die Beklagte den pfändbaren Teil der Rente ohne Rücksicht auf die in § 850c ZPO vorgesehenen Beschränkungen bestimmen, wobei dem Schuldner jedoch so viel zu belassen sei, wie er für seinen notwendigen Unterhalt und zur Erfüllung seiner laufenden gesetzlichen Unterhaltspflichten bedürfe. Die Vorlage eines Nachweises, wie eine Bescheinigung des Sozialhilfeträgers, aus der sich ergebe, dass der Kläger durch die beabsichtigte Aufrechnung hilfebedürftig im Sinne des SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt) oder des SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) werde, sei nicht erfolgt. Den hiergegen gerichteten Widerspruch, gestützt darauf, dass es sich bei der Beklagten weder um das Vollstreckungsgericht handele noch ein vollstreckbarer Titel vorliege und zudem eine vorrangig zu tilgende Forderung vorliege, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid zurück. Daraufhin erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht Stuttgart.
c. Entscheidung
Das Gericht gab der Klage statt. Die Beklagte habe keine wirksame Aufrechnung vorgenommen, sodass die Neuberechnung rechtswidrig sei. Schon mit dem Begriff der Aufrechnung knüpfe § 51 SGB I an das Bürgerliche Recht an. Auszugehen sei von den bürgerlich-rechtlichen Vorschriften, die in einzelnen Punkten durch § 51 SGB I modifiziert würden. Die Aufrechnung scheitere vorliegend jedenfalls daran, dass eine Pfändung nach § 850f Abs. 2 ZPO i.V.m. § 51 Abs. 1 SGB I mangels Vorliegens der Voraussetzungen nicht zulässig sei. Denn das Erfordernis einer Forderung aus einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung sei nicht erfüllt. Dies verlange, dass der Titel jedenfalls auch auf eine vorsätzliche unerlaubte Handlung des Schuldners hin ergangen sein müsse, die wenigstens einen der dem Titel unterlegten rechtlichen Gründe bilde und im Titel zum Ausdruck gebracht sein müsse. Das Vollstreckungsgericht habe anhand des Tenors, auch anhand der Urteilsgründe, zu überprüfen, ob ein deliktischer Anspruch dem Titel zugrunde liege. Hinsichtlich des Anspruchsgrundes sei das Vollstreckungsgericht an die Feststellungen des Prozessgerichts gebunden. Dies habe jedenfalls auch für die Beklagte zu gelten. Einen Bescheid, der einen nach § 116 SGB X übergegangenen Schadensersatzanspruch gegenüber dem Kläger zum Inhalt haben soll, habe die Beklagte nicht mehr vorlegen können und sei insoweit beweisfällig geblieben. Das gegenüber der Beklagten abgegebene Schuldanerkenntnis genüge nicht. Es handele sich um ein abstraktes Schuldanerkenntnis, da es den qualifizierten Schuldgrund nicht ausweise, sondern lediglich den Betrag nenne, den der Kläger der Beklagten schulde. Ein abstraktes Schuldanerkenntnis sei des Weiteren von seinem Rechtscharakter her von allen wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhängen abgelöst, es bestehe kein direkter rechtlicher Zusammenhang zwischen einer etwaigen vorsätzlichen unerlaubten Handlung und der abstrakten Forderung aus dem Schuldanerkenntnis. Dies bedeute, dass die Voraussetzungen des § 850f Abs. 2 ZPO nicht erfüllt seien. Die Pfändung nach § 54 Abs. 4 SGB I, § 750c ZPO scheitere jedenfalls daran, dass das Einkommen des Klägers die geltende Pfändungsfreigrenze unterschreite. Eine Aufrechnung sei daher insgesamt rechtswidrig.
5. Gerichtsbescheid vom 14.06.2024, S 5 R 3270/21 (rechtskräftig)
a. Leitsatz
Ein Verdienstausfall i.S. des § 38 Abs. 4 Satz 2 SGB V kann dadurch entstehen, dass die haushaltsangehörige Ehefrau, die während ihrer Elternzeit in Teilzeit berufstätig ist, während der stationären Rehabilitation ihres Ehemannes vollumfänglich Elternzeit (ohne Teilzeitbeschäftigung) nimmt, um den Familienhaushalt weiterzuführen.
b. Sachverhalt
Zwischen den Beteiligten war die Erstattung eines Verdienstausfalls der Ehefrau des Klägers für die Zeit seiner stationären medizinischen Rehabilitation streitig. Die Eheleute haben zwei Töchter (2 und 5 Jahre) und waren berufstätig. Der Kläger hatte an zwei Tagen je Woche seine Ruhetage; an diesen Tagen arbeitete seine Ehefrau (Teilzeit 40 % während noch laufender Elternzeit). Der beklagte Rentenversicherungsträger gewährte dem Kläger stationäre Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und bewilligte dem Kläger zudem eine Haushaltshilfe nach § 74 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in Höhe des notwendigerweise entstandenen Nettoverdienstausfalls. Der Verdienstausfall werde nach Abschluss der Reha erstattet. Die Ehefrau des Klägers vereinbarte mit ihrem Arbeitgeber für die Zeit der Rehabilitationsmaßnahme ihres Ehemannes (Kläger) eine Elternzeit ohne die bisherige (Teilzeit-)Beschäftigung. Die Beklagte lehnte den Antrag auf Erstattung eines entstandenen Verdienstausfalles ab. Die Ehefrau des Klägers habe während des Rehabilitationszeitraumes tatsächlich keinen Verdienstausfall gehabt. Durch die Inanspruchnahme von Elternzeit sei sie vollständig von der Arbeit freigestellt gewesen. Dagegen wandte sich der Kläger mit seiner Klage. Seine Ehefrau sei bis zur Durchführung der Rehabilitationsmaßnahme in Elternzeit zu 40% beschäftigt gewesen. Um die Betreuung der Kinder auch im Zeitraum der Rehabilitationsmaßnahme an seinen beiden Ruhetagen zu gewährleisten, habe sie die Elternzeit für den Zeitraum der Rehabilitationsmaßnahme auf 100% erhöht und anschließend wieder auf 60% gesenkt. Dadurch sei ihr ein Verdienstausfall entstanden.
c. Entscheidung
Das Sozialgericht gab der Klage statt. Der Kläger habe gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erstattung des Verdienstausfalls seiner Ehefrau während der medizinischen Rehabilitation. Die Beklagte habe dem Kläger dem Grunde nach die Gewährung von Leistungen nach § 74 Abs. 1 SGB IX bewilligt und die Erstattung des notwendigerweise entstandenen Verdienstausfalls zugesichert. Der Ehefrau des Klägers sei während der streitigen Zeit ein Verdienstausfall entstanden. Anerkannt sei die Annahme eines Verdienstausfalles, wenn der Familienangehörige zur Weiterführung des Haushalts unbezahlten Urlaub in Anspruch nehme mit der Folge, dass er wegen der Nichterbringung seiner Arbeitsleistung kein Arbeitsentgelt erhalte. Vorliegend habe die Ehefrau zur Weiterführung des Haushalts während der medizinischen Rehabilitation des Klägers zwar keinen unbezahlten Urlaub genommen, sondern zur Sicherstellung der Weiterführung des Haushalts und der Betreuung der gemeinsamen Kinder genau für die Zeit der Verhinderung des Klägers wegen der Rehabilitation zeitlich begrenzt Elternzeit vereinbart mit der Folge, dass ihre unmittelbar vor und nach der medizinischen Rehabilitation ausgeübte Teilzeitbeschäftigung suspendiert worden sei. Die Inanspruchnahme der Elternzeit durch die Ehefrau des Klägers führe dazu, dass lediglich die wechselseitigen Hauptleistungspflichten, d.h. die Arbeitspflicht und die Vergütungspflicht, ruhten. Der vorliegende Sachverhalt unterscheide sich nicht wesentlich von einem unbezahlten Urlaub, der unstreitig einen Verdienstausfall begründe.
6. Urteil vom 28.06.2024, S 18 BA 372/22 (rechtskräftig)
a. Leitsatz
Sofern ohne unverhältnismäßig großen Verwaltungsaufwand festgestellt werden kann, dass Arbeitsentgelt bestimmten Arbeitnehmern zugeordnet werden kann, ist der Erlass eines Summenbescheides nach § 28f Abs. 2 SGB IV rechtswidrig.
b. Sachverhalt
Die Klägerin, die im streitigen Zeitraum (neben dem Geschäftsführer) maximal sechs namentlich benannte Arbeitnehmer beschäftigte, wehrte sich nach erfolgter Betriebsprüfung gegen eine Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen für die private Kfz-Nutzung durch ihre Arbeitnehmer, welche die Beklagte durch Summenbescheid festgesetzt hatte. Da seitens der Klägerin keine Fahrtenbücher vorgelegt werden konnten, nahm sie ohne weitere Ermittlungen unter Berufung auf § 28f Abs. 2 SGB IV keine Zuordnung der nacherhobenen Beiträge zu den jeweiligen Arbeitnehmern vor.
c. Entscheidung
Das Gericht hat die Beklagte (im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X) verpflichtet, den Summenbescheid zurückzunehmen. Bei der vorliegenden überschaubaren Anzahl der in Betracht kommenden Arbeitnehmer habe die Beklagte ohne unverhältnismäßig großen Verwaltungsaufwand bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens feststellen können, welchen bestimmten Arbeitnehmern die geldwerten Vorteile aus der privaten Kfz-Nutzung zuzuordnen gewesen wären. Dem etwaigen Verwaltungsaufwand stehe (auch) gegenüber, dass eine personenbezogene Beitragsberechnung für die einzelnen Arbeitnehmer eine nicht unerhebliche Bedeutung habe. Die Festsetzung der Beitragsnachforderung mittels Summenbescheid (ohne Zuordnung zu einem bestimmten Beschäftigten) sei rechtswidrig.
7. Gerichtsbescheid vom 05.08.2024, S 23 R 395/23 (rechtskräftig)
a. Leitsatz
Gem. § 128 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Dafür genügt eine sehr hohe, an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ist erst dann anzunehmen, wenn die entscheidungserhebliche Tatsache - hier das Vorliegen einer quantitativen Leistungseinschränkung der Klägerin auf Dauer - in so hohem Maße wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen.
b. Sachverhalt
Zwischen den Beteiligten war eine Rente wegen Erwerbsminderung streitig. Die 1962 geborene Klägerin hatte den Beruf der Bäckereifachverkäuferin erlernt und war zuletzt bis Juli 2010 versicherungspflichtig beschäftigt. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung lagen letztmalig im August 2013 vor. Im Oktober 2021 beantragte die Klägerin bei der beklagten Rentenversicherung die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung und machte eine Erwerbsminderung seit dem Jahr 2009 geltend. Nach Einholung medizinischer Befundunterlagen lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab. Dagegen wandte sich die Klägerin mit ihrer Klage. Das Gericht befragte die behandelnden Ärzte der Klägerin zu deren gesundheitlichen Beeinträchtigungen, u.a. auch in der Vergangenheit.
c. Entscheidung
Die Kammer wies die Klage ab. Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI hätten Versicherte Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert seien. Neben den medizinischen Voraussetzungen müssten auch die sogenannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nach § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 SGB VI erfüllt seien. Dies sei der Fall, wenn der Versicherte in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeitragszeiten für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit habe und die allgemeine Wartezeit gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB VI vor Eintritt der Erwerbsminderung erfüllt sei. Die Erwerbsminderung müsse daher gleichzeitig mit der Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen vorliegen. Vorliegend seien die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente nur bis zum 31.08.2013 gegeben. Davon, dass der Leistungsfall der Erwerbsminderung bis spätestens zum 31.08.2013 eingetreten sei, habe sich die Kammer nicht mit der nach § 128 SGG notwendigen, an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit überzeugen können. Ein auf Dauer unter sechs Stunden täglich herabgesetztes Leistungsvermögen auch für leichte Tätigkeit überwiegend im Sitzen zum Zeitpunkt des letztmaligen Vorliegens der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen lasse sich anhand der beigezogenen Befunde nicht mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ableiten. Ob die Klägerin nicht mehr in der Lage gewesen sei, ihre erlernte Tätigkeit als Bäckereifachverkäuferin auszuüben, sei nicht entscheidungsrelevant, weil sie nicht zum begünstigten Personenkreis der Übergangsvorschrift des § 240 SGB VI (die vor dem 02.01.1961 Geborenen) zähle.
8. Gerichtsbescheid vom 29.11.2024, S 24 R 4315/21 (rechtskräftig)
a. Leitsatz
Auch bei einer im Zeitpunkt der Heirat vorliegenden schweren Erkrankung mit ungünstiger Verlaufsprognose und Kenntnis beider Ehegatten davon ist der Nachweis nicht ausgeschlossen, dass aus anderen als aus Versorgungsgründen geheiratet wurde. Gegen die gesetzliche Vermutung einer Versorgungsehe (§ 46 Abs. 2a SGB VI) spricht insbesondere eine konkrete und konsequente Verwirklichung der Heiratsabsichten durch objektiv nach außen tretende Vorbereitungshandlungen (hier z.B. Beschaffen und Übersetzen von nur für die Heirat nötigen Dokumenten) vor Kenntnis von der Erkrankung.
b. Sachverhalt
Die Beteiligten stritten über die Gewährung einer kleinen Witwerrente nach § 46 Abs. 1 SGB VI aus der Versicherung des im Juni 2020 verstorbenen Ehemanns des Klägers. Denn die – nach einer Verlobung in der Vorweihnachtszeit des Jahres 2018 - am 27.03.2020 geschlossene Ehe dauerte bis zum Tod weniger als ein Jahr an und der Verstorbene litt bei der Heirat bereits offenkundig an einer weit fortgeschrittenen lebensbedrohlichen Erkrankung, einem nicht operablen Hirntumor.
c. Entscheidung
Das Sozialgericht hat die beklagte Rentenversicherung zur Gewährung der kleinen Witwerrente verurteilt. Entgegen der gesetzlichen Vermutung in § 46 Abs. 2a SGB VI war die Ehe zur Überzeugung des Sozialgerichts nicht als Versorgungsehe einzuordnen, da – im Rahmen einer Gesamtabwägung – besonders gewichtige innere und äußere Umstände vorgelegen hätten, die gegen eine Versorgungsehe sprechen würden. Im Vordergrund habe die Besiegelung der langjährigen Liebesbeziehung gestanden. Als Besonderheit des Falls sei dabei zu berücksichtigen, dass es sich bei der Entdeckung des nicht kurativ behandelbaren Hirntumors des Verstorbenen um einen Zufallsfund nach einem Verkehrsunfall im Juli 2019 gehandelt habe. Die Verlobung in der Vorweihnachtszeit 2018 habe gänzlich frei von Versorgungsgedanken bei damals scheinbar unbeeinträchtigtem Gesundheitszustand stattgefunden. Mit der Umsetzung des Heiratsentschlusses sei auch vor Kenntnis von der Erkrankung konkret begonnen worden. So habe der Kläger bereits im Juni 2019 vor Diagnosestellung die Beschaffung der notwendigen Urkunden für die Heirat (Anforderung seiner Geburtsurkunde und einer beglaubigten Übersetzung) beauftragt.
IV. Gesetzliche Krankenversicherung
1. Urteil vom 28.06.2024, S 18 KR 2694/23 (rechtskräftig)
a. Leitsatz
Der Anspruch des Krankenhaues auf Zahlung einer Aufwandspauschale (§ 275c Abs. 1 S. 2 SGB V) entfällt nur im Falle einer nachgewiesenen Fehlerhaftigkeit der Abrechnung. Sofern es für die Feststellung der Fehlerhaftigkeit der Abrechnung weiterer Ermittlungen bedürfte, welche im Rechtsstreit über die Zahlung der Aufwandspauschale nicht anzustellen sind, ist sie nicht nachgewiesen.
b. Sachverhalt
Das klagende Krankenhaus begehrte wegen eines im Ergebnis ohne Beanstandungen durchgeführten Prüfverfahrens die Zahlung einer Aufwandspauschale gemäß § 275c Abs. 1 S. 2 SGB V. Die beklagte Krankenkasse verweigerte die Zahlung, da die Klägerin das Prüfverfahren wegen fehlerhafter Kodierung veranlasst habe.
c. Entscheidung
Das Gericht hat die Beklagte zur Zahlung der Aufwandspauschale verurteilt. Zwar scheide nach der Rechtsprechung des BSG der Anspruch auf die Aufwandspauschale aus, wenn die Krankenkasse durch eine nachweislich fehlerhafte Abrechnung bzw. durch ein sonstiges Fehlverhalten des Krankenhauses veranlasst worden sei, das Prüfverfahren unter Beteiligung des Medizinischen Dienstes (MD) einzuleiten. Der Anspruch auf Zahlung einer Aufwandspauschale entfalle aber nur im Falle einer nachgewiesenen Fehlerhaftigkeit der Abrechnung bzw. eines Fehlverhaltens des Krankenhauses. Dies sei hier nicht der Fall. Ohne weitere Ermittlungen, insbesondere die Beiziehung und Auswertung der Patientenakte, sei nicht feststellbar, dass die Klägerin ihre Übermittlungspflichten verletzt habe bzw. eine fehlerhafte Kodierung vorliege. Auch der MD habe nicht ausdrücklich eine Fehlkodierung festgestellt. Im Hinblick auf den mit der Einführung der Aufwandspauschale verfolgten Zweck komme indes eine weitere Aufklärung des Sachverhalts nicht in Betracht, denn sie sei mit dem Sinn und Zweck des § 275c Abs. 1 S. 2 SGB V nicht vereinbar.
2. Gerichtsbescheid vom 15.07.2024, S 23 KR 4264/23 (Berufung anhängig)
a. Leitsatz
Zum Anspruch auf die Versorgung mit dem Arzneimittel Exforge® 5mg/160mg ohne Begrenzung auf den Festbetrag (vorliegend verneint).
b. Sachverhalt
Zwischen den Beteiligten war eine Versorgung mit dem Arzneimittel Exforge® 5mg/160mg (Wirkstoff: Amlodipin und Valsartan) ohne Begrenzung auf den Festbetrag zur Behandlung einer essentiellen Hypertonie streitig. Den entsprechenden Antrag lehnte die beklagte Krankenkasse ab, nachdem der Medizinische Dienst (MD) zu dem Ergebnis gelangt war, dass eine Übernahme der über dem Festbetrag liegenden Kosten nicht empfohlen werden könne, weil bislang lediglich zwei von insgesamt zwölf unterhalb der Festbetragsgrenze erhältlichen Generika ausprobiert worden seien. Es könne nicht festgestellt werden, dass ein sogenannter atypischer Einzelfall vorliege. Hiergegen erhob die Klägerin Klage zum Sozialgericht. Die als sachverständigen Zeugen befragten Ärzte bestätigten, dass zwei Generika getestet worden seien.
c. Entscheidung
Die Kammer wies die Klage ab. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf die Versorgung mit dem Arzneimittel Exforge® 5mg/160mg ohne Mehrkosten. Sei für ein Arzneimittel wirksam ein Festbetrag festgesetzt, trage die Krankenkasse grundsätzlich - abgesehen von der Zuzahlung (§ 31 Abs. 3 SGB V) - die Kosten bis zur Höhe dieses Betrags (§ 31 Abs. 2 Sätze 1 bis 5 SGB V). Im Fall der wirksamen Festsetzung eines Festbetrages erfülle die Krankenkasse regelmäßig mit diesem ihre Leistungspflicht gegenüber dem Versicherten. Nach Maßgabe des § 35 Abs. 1 Satz 2 SGB V gelte die Festbetragsfestsetzung jeweils für eine Gruppe von Arzneimitteln und setze hierfür die Geldbeträge fest, mit denen einerseits eine ausreichende medizinische Versorgung gewährleistet, andererseits aber ein Preiswettbewerb unter den Herstellern ermöglicht werden solle (§ 35 Abs. 5 Satz 1 und 2 SGB V). Die Festbeträge seien so festzusetzen, dass sie lediglich "im Allgemeinen" eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche sowie in der Qualität gesicherte Versorgung gewährleisten (§ 35 Abs. 5 Satz 1 SGB V). Diesem Regelungskonzept entspreche es, dass eine Leistungsbeschränkung auf den Festbetrag (nur) dann nicht eingreife, wenn ein atypischer Ausnahmefall vorliege, in dem - trotz Gewährleistung einer ausreichenden Arzneimittelversorgung durch die Festbetragsfestsetzung im Allgemeinen - aufgrund ungewöhnlicher Individualverhältnisse keine ausreichende Versorgung zum Festbetrag möglich sei. Dies sei dann der Fall, wenn die zum Festbetrag erhältlichen Arzneimittel unerwünschte Nebenwirkungen verursachten, die über bloße Unannehmlichkeiten oder Befindlichkeitsstörungen hinausgingen und damit die Qualität einer behandlungsbedürftigen Krankheit (§ 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V) erreichten. Einen solchen Ausnahmefall verneinte die Kammer im vorliegenden Fall. Als Alternative zu Exforge® 5mg/160mg existierten mehrere zugelassene Arzneimittel auf dem Markt, mit denen die Bluthochdruckerkrankung der Klägerin behandelt werden könne und bei deren Einsatz für die Klägerin keine Mehrkosten anfallen würden (insgesamt 13 zum Festbetragspreis erhältliche Medikamente mit identischen Wirkstoffen in gleicher Dosierung). Hiervon habe die Klägerin bisher lediglich zwei Präparate eingenommen. Das Bundessozialgericht fordere jedoch, dass alle zum Festbetrag in Betracht kommenden Arzneimittelalternativen erfolglos ausgeschöpft sein müssten. Dies behaupte auch die Klägerin nicht. Zudem stünden außer den Arzneimitteln mit fester Wirkstoffkombination verschiedene Mono-Präparate zur Verfügung, auch eine Umstellung der antihypertensiven Medikation sei möglich. Zwingende (medizinische) Gründe, die einer (weiteren) Testung entgegenstünden, lägen nicht vor. Subjektiv empfundene Hinderungsgründe reichten nicht aus.
3. Urteil vom 19.12.2024, S 15 KR 3066/24 (Berufung anhängig)
a. Leitsatz
Auch bei Personen, die bereits dauerhaft aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind, ist bzgl. der Beurteilung der Voraussetzungen des § 6 Abs. 3a SGB V hinsichtlich des insoweit maßgeblichen Zeitraums der letzten fünf Jahre vor Eintritt der Versicherungspflicht auf das Datum des Antrags auf Gewährung von Hinterbliebenenrente und nicht auf den Zeitpunkt ihres Ausscheidens aus dem Erwerbsleben abzustellen.
b. Sachverhalt
Im Streit stand die Aufnahme des Klägers in die Krankenversicherung der Rentner (KVdR). Der Kläger war selbstständig tätig und zuletzt privat krankenversichert. Inzwischen bezieht er eine Altersrente. Nach dem Tod seiner Ehefrau stellte er einen Antrag auf Witwenrente. Die Ehefrau bezog bis zum Zeitpunkt ihres Todes eine Altersrente und war zuletzt in der KVdR bei den Beklagten versichert. Die Aufnahme des Klägers in die KVdR lehnte die beklagte Krankenkasse ab, da die Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Die Regelung des § 6 Abs. 3a Satz 2 SGB V könne nicht nur dann gelten, solange die betroffenen Personen im Erwerbsleben stünden, sondern müsse auch dann zur Anwendung kommen, wenn die Personen aus dem Erwerbsleben ausgeschieden seien. Bei Personen, die bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschieden seien, sei die weitere Voraussetzung des § 6 Abs. 3a Satz 2 SGB V dann erfüllt, wenn die Person diese Voraussetzung zum Zeitpunkt ihres Ausscheidens aus dem Erwerbsleben erfüllt habe. Dies werde im Rundschreiben des GKV-Spitzenverbandes vom 24. Oktober 2019, Punkt A II 2 geregelt. Hiergegen wandte sich der Kläger im sozialgerichtlichen Klageverfahren mit der Begründung, dass die Rechtsauffassung der Beklagten dem Wortlaut des Gesetzes widerspreche.
c. Entscheidung
Das Gericht gab der Klage statt und stellte fest, dass der Kläger Mitglied in der KVdR ist. Der Kläger sei entgegen der Ansicht der Beklagten nicht nach § 6 Abs. 3a SGB V versicherungsfrei gewesen. Die in § 6a Abs. 3 Satz 2 SGB V genannte „Hälfte dieser Zeit“ beziehe sich auf den in Satz 1 enthaltenen Fünfjahreszeitraum. Ein anderer Zeitraum oder gar die Bildung von zwei fünf-Jahres-Zeiträumen sei gesetzlich nicht vorgesehen. Dies widerspreche auch nicht dem Willen des Gesetzgebers, sondern ergebe sich aus dem eindeutigen Wortlaut und der Systematik der Norm.
V. Sozialhilfe, Eingliederungshilfe und
Asylbewerberleistungsgesetz
1. Beschluss vom 14.06.2024, S 11 AY 2008/24 ER (rechtskräftig)
a. Leitsatz
Im Hinblick auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19.10.2022 (1 BvL 3/21) stellt sich die verfassungsrechtliche Problematik der Regelungen in § 3a AsylbLG als vergleichbar dar, denn auch insoweit bestehen keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass in den Sammelunterkünften regelmäßig tatsächlich Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften erzielt werden oder werden können, die eine Absenkung der Leistungen um 10 % rechtfertigen würden. Vor diesem Hintergrund sind angesichts der überwiegenden Erfolgsaussichten in der Hauptsache im Eilverfahren keine hohen Anforderungen an die Glaubhaftmachung der Eilbedürftigkeit zu stellen.
b. Sachverhalt
Zwischen den Beteiligten war die Gewährung von Grundleistungen nach den §§ 3, 3a AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 (statt Regelbedarfsstufe 2) streitig. Die Antragstellerin war zum Zeitpunkt der Antragstellung in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht und im Besitz einer Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung nach § 60b Abs. 1 AufenthG (Duldung für Personen mit ungeklärter Identität).
c. Entscheidung
Die Kammer hat die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, der Antragstellerin Leistungen gemäß §§ 3, 3a AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren. Aus der genannten Entscheidung des BVerfG (a.a.O.) ergebe sich nach Auffassung der Kammer ohne Zweifel auch die Verfassungswidrigkeit der Parallelregelung des § 3a Abs. 1 Nr. 2 lit. b AsylbLG bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 2 lit. b AsylbLG.
2. Beschluss vom 29.11.2024, S 11 SO 3793/24 ER (rechtskräftig)
a. Leitsatz
Die allein wegen einer Diabetes-Erkrankung benötigte Begleitung eines Grundschulkindes beim Schulbesuch fällt in den Zuständigkeitsbereich der Krankenversicherung.
b. Sachverhalt
Zwischen den Beteiligten war die Gewährung einer medizinisch geschulten Begleitung für den Grundschulbesuch der Antragstellerin streitig, welche an einem Diabetes mellitus Typ 1 leidet.
c. Entscheidung
Die Kammer hat die Antragsgegnerin als erstangegangenen Rehabilitationsträger im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig die Kosten für eine medizinisch geschulte Begleitung der Antragstellerin während des Schulbesuchs als Leistungen der häuslichen Krankenpflege gemäß §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4, 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V zu übernehmen. Die begehrte Schulbegleitung diene einzig der Versorgung der Erkrankung der Antragstellerin, des Diabetes mellitus. Die Gewährung regelmäßiger Blutzuckermessungen und Insulingaben während des Schulbesuchs zu im Voraus bestimmten Zeiten – wie von der beigeladenen Krankenkasse bewilligt – würden insoweit nicht genügen. Aufgrund der alterstypisch schwankenden Blutzuckerwerte infolge wechselnder körperlicher Aktivitäten, unregelmäßigem Tagesrhythmus und Infekten bestehe die Notwendigkeit einer jederzeitigen Interventionsmöglichkeit. Die Antragstellerin benötige daher auch während des Schulbesuchs eine ständige Beobachtung, damit in den jeweiligen unvorhersehbar auftretenden Situationen die geeigneten Maßnahmen ergriffen werden, um Über- und Unterzuckerungen zu vermeiden. Zur Handhabung all dessen sei die Antragstellerin selbstständig und ohne Hilfe wegen ihres Alters (noch) nicht in der Lage (vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 25.03.2021 – L 4 KR 3741/20 ER-B, Rn. 40, juris; Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 27.07.2022 – L 5 KR 2686/21, Rn. 41, juris).
VI. Gesetzliche Unfallversicherung
1. Gerichtsbescheid vom 19.02.2024 (S 21 U 1048/22, bestätigt durch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 23.01.2025, L 6 U 759/24)
a. Leitsatz
Zu den Voraussetzungen der Anerkennung einer Atemwegserkrankung als Berufskrankheit nach Nr. 4302 der Anlage 1 der Berufskrankheitenverordnung (BKV) – durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen.
b. Sachverhalt
Zwischen den Beteiligten war u.a. die Anerkennung einer Atemwegserkrankung (hier: COPD) als Berufskrankheit Nr. 4302 der Anlage 1 zur BKV – durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankung – streitig.
Die Klägerin machte geltend, während ihrer Tätigkeit als Schuhverkäuferin in einem Schuhhaus von einer defekten Klimaanlage ausgestoßenen schwarzen Partikeln sowie von Schuhen ausgehenden Giftstoffen (Kleber, Farbe, etc.) ausgesetzt gewesen zu sein, worauf sie ihre Atemwegserkrankung zurückführe.
c. Entscheidung
Das Sozialgericht wies die Klage ab. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Anerkennung ihrer Atemwegserkrankung als Berufskrankheit im Sinne der BK Nr. 4302. Unter den Begriff der obstruktiven Atemwegserkrankung im Sinne der BK Nr. 4302 falle zwar das Krankheitsbild einer chronischen obstruktiven Lungenerkrankung (COPD). Das Vorliegen der für die Feststellung der BK Nr. 4302 erforderlichen arbeitstechnischen Voraussetzungen im Sinne einer (ausreichenden) Exposition gegenüber chemisch-irritativ oder toxisch wirkenden Arbeitsstoffen könne jedoch nicht festgestellt werden. Eine berufliche Verursachung der Atemwegsbeschwerden bei bereits vor der Tätigkeitsaufnahme im Schuhhaus bestehenden Atemwegsbeschwerden und Nikotinabusus sei nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit belegt.
2. Gerichtsbescheid vom 13.05.2024, S 22 U 1271/23 (rechtskräftig)
a. Leitsätze
1. Der bloße Aufenthalt in einer Rehabilitationsklinik bedingt nicht automatisch einen Versicherungsschutz. Maßgebend für einen Versicherungsschutz ist die zum Unfallzeitpunkt ausgeübte Tätigkeit. Die Einnahme von Mahlzeiten während des stationären Aufenthalts ist selbst nicht in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert, weil die Nahrungsaufnahme für jeden Menschen Grundbedürfnis ist und somit betriebliche Belange, etwa das betriebliche Interesse an der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers, regelmäßig zurücktreten.
2. Der bloße (auch hochgradige) Verdacht auf eine Infektion (hier SARS-Co2) während einer Rehabilitationsmaßnahme stellt keinen Nachweis dar.
b. Sachverhalt
Die Klägerin begehrte die Anerkennung einer Covid-19 Erkrankung als Versicherungsfall. Im März 2020 führte die Klägerin eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme in einer Klinik der Rentenversicherung durch. Während des Aufenthaltes kam es laut Entlassungsbericht zu Erkältungssymptomen bei der Klägerin. Es erfolgte aufgrund einer Pandemie-Allgemeinverfügung sodann eine vorzeitige Entlassung. Danach wurde die Klägerin beim Hausarzt negativ auf Covid-19 getestet. Sodann musste die Klägerin für mehrere Tage in stationäre Krankenhausbehandlung, wobei dort ein hochgradiger Verdacht auf SARS-Co2-Infekt mit Pneumonie geäußert wurde, die Klägerin aber weitere zweimal negativ getestet wurde. Nach Entlassung aus dem Krankenhaus stellte der Hausarzt noch eine AU-Bescheinigung wegen einer „Viruskrankheit, nicht näher bezeichnet“ aus. Im Oktober 2020 wurde durch den Nachweis eines erhöhten Corona-Titers eine durchgemachte Corona-Infektion nachgewiesen. Im März 2022 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Anerkennung eines Arbeitsunfalls, da die Infektion vermutlich während des Aufenthaltes in der Reha-Klinik mit Covid-19 erfolgt sei. Es sei sehr schwer, den genauen Zeitpunkt der Infektion festzulegen. Die Klägerin habe mit mehreren Mitpatienten direkten und langen Kontakt gehabt, die ebenfalls an Covid19 erkrankt seien. Ein intensiver Kontakt mit einer infektiösen Person sei durch den Kontakt im Speisesaal mit insgesamt drei später positiv getesteten Mitpatienten mit hoher Wahrscheinlichkeit gegeben. Die Rehabilitationsklinik wies auf Nachfrage der gesetzlichen Unfallversicherung (Beklagte) darauf hin, dass die Reha-Klinik im März 2020 letztlich nach einem Corona-Ausbruch geräumt worden sei. Es sei ungewiss, ob es während des stationären Aufenthalts zu einem intensiven Kontakt der Klägerin mit einer sog. Index-Person gekommen sei. Die Beklagte lehnte die vermutete Covid-19-Infektion als Versicherungsfall ab. Da eine Covid-19 Infektion nicht zeitnah nachgewiesen werden habe können, könne ein Infektionsgeschehen auf den stationären Rehaufenthalt nicht eingeschränkt werden.
c. Entscheidung
Das Sozialgericht wies die Klage ab. Für die Kammer war schon keine Corona-Infektion während des Aufenthalts in der stationären Rehabilitationseinrichtung mit dem notwendigen Maß der Wahrscheinlichkeit nachgewiesen. Die Krankmeldung durch den Hausarzt sei nur aufgrund einer „Viruskrankheit, nicht näher bezeichneter Art“ erfolgt. Die Klägerin sei sowohl vom Hausarzt als auch während des stationären Krankenhausaufenthalts nach der Rehabilitationsmaßnahme mehrmals negativ auf das Corona-Virus getestet worden. Der Nachweis einer durchgemachten Corona-Infektion sei erst im Oktober 2020 durch einen erhöhten Corona-Titer erfolgt. Ein genauer Zeitpunkt der Ansteckung lasse sich damit nicht ermitteln und der bloße Verdacht auf eine Infektion, wenngleich dieser hochgradig gewesen sein mag, stelle keinen erforderlichen Nachweis dar.
Zudem bedinge der bloße Aufenthalt in einer Rehabilitationsklinik nicht automatisch einen Versicherungsschutz. Maßgebend für einen Versicherungsschutz sei die zum Unfallzeitpunkt ausgeübte Tätigkeit. Die Klägerin sei während der Reha mit Mitpatienten auch privat unterwegs gewesen, sodass bei Annahme einer Infektion währenddessen ohnehin kein Versicherungsschutz vorgelegen hätte. Auch bei Annahme einer Corona-Infektion der Klägerin während der Einnahme von Mahlzeiten während der stationären Rehabilitationsmaßnahme – wie von der Klägerin vorgetragen – wäre der Versicherungsschutz zu verneinen gewesen. Denn die Einnahme von Mahlzeiten während des stationären Aufenthalts sei grundsätzlich selbst nicht in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert, weil die Nahrungsaufnahme für jeden Menschen Grundbedürfnis sei und somit betriebliche Belange, etwa das betriebliche Interesse an der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers, regelmäßig zurücktreten würden. Zwar unterliege der Weg zur oder von der Nahrungsaufnahme dem Versicherungsschutz; dieser beginne bzw. ende jedoch grundsätzlich an der Außentür der Kantine.
3. Urteil vom 25.06.2024, S 21 U 4977/20 (rechtskräftig)
a. Leitsatz
Zur Ermittlung des für ein Unternehmen maßgeblichen Gefahrtarifs bzw. der Gefahrklasse durch den Unfallversicherungsträger.
b. Sachverhalt
Zwischen den Beteiligten war die Veranlagung des ehemaligen Unternehmens des Klägers zu den Gefahrklassen im 2. Gefahrtarif der Beklagten für die Jahre 2014 und 2015 sowie die darauf gestützten Beitragsfestsetzungen streitig. Streit bestand insbesondere über die Zuordnung zur Gefahrtarifstelle 500 und dem Gewerbezweig „Abbruch und Entsorgung“.
c. Entscheidung
Das Sozialgericht wies die Klage ab. Die mit dem streitgegenständlichen Bescheid vorgenommene Veranlagung zur Gefahrtarifstelle 500 „Abbruch und Entsorgung“, Gefahrklasse 20,74 des 2. Gefahrtarifs der Beklagten und die auf dem Veranlagungsbescheid beruhenden Beitragsbescheide seien rechtmäßig. Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) als Spezialvorschrift gegenüber § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) sei ein rechtswidriger Veranlagungsbescheid des Unfallversicherungsträgers auch für vergangene Tarifperioden aufzuheben. Bei der Ermittlung und Zuordnung der maßgeblichen Gefahrtarifstelle sei von deren Wortlaut auszugehen und der systematische Zusammenhang zu ermitteln. Hierbei sei der Wille des Satzungsgebers und der Zweck der Regelung zu berücksichtigen. Die Forderung des Klägers, wegen eines erheblich abweichenden Grades der Unfallgefahr einem anderen Gewerbezweig zugeteilt zu werden, könne überhaupt nur mit Aussicht auf Erfolg erhoben werden, wenn – was vorliegend nicht der Fall sei – der Gefahrtarif der BG mehrere für die betreffende Unternehmensart in Betracht kommende Gewerbezweige ausweise und unklar sei, welchem von ihnen sie nach Art und Gegenstand zuzurechnen sei. Im Übrigen gelte die festgestellte Gefahrklasse auch für Unternehmen, in denen nur Teiltätigkeiten eines Gewerbezweiges ausgeführt werden und sei für Unternehmen, deren Tätigkeiten – auch wechselnd – mehreren Gewerbezweigen zuzuordnen wären, die Veranlagung nach dem Gewerbezweig mit der höchsten nach Teil III in Betracht kommenden Gefahrklasse festzusetzen.
4. Urteil vom 29.11.2024, S 26 U 115/20 (rechtskräftig)
a. Leitsatz
Zur Nichtanerkennung einer Bandscheibenerkrankung eines Rohrinstallateurs/Heizungsmonteurs als Berufskrankheit nach Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV mangels Vorliegens der arbeitstechnischen Voraussetzungen und der haftungsbegründen Kausalität zwischen beruflichen Einwirkungen und bandscheibenbedingter Erkrankung der Halswirbelsäule.
b. Sachverhalt
Mit der vorliegenden Klage begehrte der Kläger die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 2109 (Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, die zu chronischen oder chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionseinschränkungen geführt haben) der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV). Der 1959 geborene Kläger war bis 1993 als Rohrinstallateur und anschließend bis 2020 als Heizungsmonteur tätig. 2018 beantragte er bei der beklagten Berufsgenossenschaft u.a. die Feststellung einer BK nach Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV. Nach Beiziehung medizinischer Befundunterlagen sowie Durchführung eines Ermittlungsgespräches mit dem Kläger lehnte die Beklagte die Anerkennung einer BK nach Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV mit der Begründung ab, dass der Kläger bei seiner beruflichen Tätigkeit keinen ausreichenden Einwirkungen ausgesetzt gewesen sei, die seine Erkrankung verursacht hätten. Nachdem die Beklagte im Widerspruchsverfahren einen ehemaligen Arbeitskollegen des Klägers zu den damaligen Arbeitsabläufen und Tätigkeiten befragt hatte, wies sie den Widerspruch des Klägers gegen ihren ablehnenden Bescheid als unbegründet zurück. Es könne dahingestellt bleiben, ob es sich bei der Erkrankung des Klägers überhaupt um ein Krankheitsbild im Sinne der streitigen BK handele, jedenfalls seien die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht erfüllt.
c. Entscheidung
Die Klage hatte keinen Erfolg. Aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens konnte sich das Gericht nicht vom Vorliegen der zur Feststellung einer BK nach Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV erforderlichen arbeitstechnischen Voraussetzungen - Tragen von Lasten mit einem Lastgewicht von 40 kg oder mehr auf der Schulter während eines Schichtanteils von etwa 1/2 Stunde oder mehr in der ganz überwiegenden Anzahl der Arbeitsschichten während eines Zeitraums von mindestens 10 Berufsjahren - mit der notwendigen an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit überzeugen. Ferner sprach - selbst wenn unterstellt wird, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt sind - zur Überzeugung des Gerichts mehr dagegen als dafür, dass die bei dem Kläger festgestellte bandscheibenbedingte Erkrankung der Halswirbelsäule durch die beruflichen Belastungen des Klägers zumindest wesentlich teilursächlich mit hervorgerufen worden sei. Gegen das Vorliegen einer durch die berufliche Tätigkeit des Klägers verursachten bandscheibenbedingten Erkrankung der Halswirbelsäule, mithin gegen das Vorliegen eines belastungskonformen Schadensbildes habe im Wesentlichen das Verteilungsmuster der beim Kläger festgestellten Erkrankungen an der Halswirbelsäule gesprochen. Während bei nicht exponierten Menschen bzw. bei der Allgemeinbevölkerung der eindeutige Schwerpunkt von Bandscheibenerkrankungen der Halswirbelsäule im Bereich der unteren Segmente liege, finde sich bei beruflich exponierten Menschen eine eindeutige Verschiebung der röntgenologischen Erkrankungsschwerpunkte nach kopfwärts hin. Dementsprechend sei eine Verlagerung des Erkrankungsschwerpunktes nach kopfwärts hin als typisches Schadensbild bei beruflicher Verursachung zu fordern. Ferner sei für die Anerkennung eines wesentlichen ursächlichen Zusammenhangs ein dem Lebensalter vorauseilender mehrsegmentaler Befall der Halswirbelsäule zu fordern; bei einem größtenteils mono- bzw. bisegmentalen Befall der Halswirbelsäule bei besonderer Betroffenheit der unteren Segmente sei von einer eigenständigen Bandscheibenerkrankung innerer Ursache auszugehen.
VIII. Vertragsarztrecht
1. Gerichtsbescheid vom 19.01.2024, S 12 KA 307/23 (rechtskräftig)
a. Leitsatz
Eine vorinsolvenzliche Abtretung vertrags(zahn)ärztlicher Honorarforderungen gegen die Kassen(zahn)ärztliche Vereinigung ist nach Erteilung der Restschuldbefreiung unwirksam, soweit sie sich auf Ansprüche bezieht, die auf nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens abgerechneten (zahn)ärztlichen Leistungen beruhen.
b. Sachverhalt
Der Kläger, ein Vertragszahnarzt, hatte seine Honorarforderungen gegen die beklagte Kassenzahnärztliche Vereinigung (KZV) zur Sicherung eines Kontokorrentkredites an die Beigeladene, eine Sparkasse, abgetreten. Im Jahre 2014 wurde über sein Vermögen ein Insolvenzverfahren eröffnet, 2021 wurde ihm die Restschuldbefreiung erteilt. Die Beigeladene war der Auffassung, Auszahlungen an den Kläger hätten keine Leistungsbefreiung zur Folge. Der Bundesgerichtshof (BGH) habe entschieden, dass eine vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vereinbarte Globalzession nach Verfahrensaufhebung wieder vollständige Wirkung entfalte. Die Beklagte widersprach dieser Rechtsauffassung, hielt aber eine Restzahlung bis zur Klärung zurück. Der Kläger erhob Klage gegen die KZV auf Auszahlung dieser Restzahlung.
c. Entscheidung
Die Klage hatte Erfolg. Das Sozialgericht entschied, die Abtretung sei nach Erteilung der Restschuldbefreiung unwirksam, soweit sie sich auf Ansprüche beziehe, die auf nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens abgerechneten Leistungen beruhe. Dieses Ergebnis stehe nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung des BGH. Mit den Wirkungen der Restschuldbefreiung auf eine vorinsolvenzliche Sicherungsabtretung habe sich der BGH nicht befasst.
2. Urteil vom 18.09.2024, S 12 KA 3938/21 (rechtskräftig)
a. Leitsatz
Für eine der Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung beigefügte Nebenbestimmung, welche den Vertragsarzt verpflichtet, die Ausübung eines Beschäftigungsverhältnisses oder einer anderen nicht ehrenamtlichen Tätigkeit dem Zulassungsausschuss für Ärzte vor Aufnahme der Tätigkeit unter Vorlage des Arbeitsvertrages unaufgefordert und unverzüglich anzuzeigen, fehlt es an einer Rechtsgrundlage.
b. Sachverhalt
Der Zulassungsausschuss für Ärzte für den Bezirk der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg in Angelegenheiten der gesonderten fachärztlichen Versorgung ließ den Kläger im Rahmen eines Auswahl- und Nachbesetzungsverfahrens als Facharzt für Strahlentherapie zu. Beigefügt war eine Nebenbestimmung, die den Kläger verpflichtete, die Ausübung eines Beschäftigungsverhältnisses oder einer anderen nicht ehrenamtlichen Tätigkeit dem Zulassungsausschuss für Ärzte vor Aufnahme der Tätigkeit unter Vorlage des Arbeitsvertrages unaufgefordert und unverzüglich anzuzeigen. Gegen diese Nebenbestimmung erhob der Kläger nach erfolglosem Widerspruchsverfahren Klage.
c. Entscheidung
Die Klage hatte Erfolg. Das Sozialgericht entschied, für die angefochtene Nebenbestimmung gebe es keine Rechtsgrundlage. Nach § 20 Abs. 1 Satz 1 der Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (Ärzte-ZV) stehe zwar ein Beschäftigungsverhältnis oder eine andere nicht ehrenamtliche Tätigkeit der Eignung für die Ausübung der vertragsärztlichen Tätigkeit entgegen, wenn der Arzt unter Berücksichtigung der Dauer und zeitlichen Lage der anderweitigen Tätigkeit den Versicherten nicht in dem seinem Versorgungsauftrag entsprechenden Umfang persönlich zur Verfügung stehe und insbesondere nicht in der Lage sei, Sprechstunden zu den in der vertragsärztlichen Versorgung üblichen Zeiten anzubieten. Hierbei handele es sich jedoch um eine Zulassungsvoraussetzung. Gemäß § 95 Abs. 3 Satz 4 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) sei es Aufgabe der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) und nicht des Zulassungsausschusses, die Einhaltung der Versorgungsaufträge zu überprüfen. Bei Verstößen gegen diese vertragsärztlichen Pflichten sei die teilweise oder vollständige Entziehung der Zulassung durch den Zulassungsausschuss, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechend, nur das letzte Mittel. Vorrangig seien die gemäß § 81 Abs. 5 SGB V in den Satzungen der KV geregelten und durch diese zu verhängenden Sanktionsmaßnahmen. Der Annahme, dass § 20 Abs. 1 Ärzte-ZV es dem Zulassungsausschuss erlauben würde, vorrangig der KV obliegende Aufgaben durch eine der Zulassung beigegebene Nebenbestimmung abzusichern, stehe schließlich auch die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Aufgabe und Befugnis entgegen.
3. Urteil vom 24.09.2024, S 24 KA 1522/21 (rechtskräftig)
a. Leitsatz
Zu den (Begründungs-) Voraussetzungen einer gesonderten Vergütung von Laborleistungen des Kapitels 32 des EBM in der Notfallambulanz eines Krankenhauses.
b. Sachverhalt
Das klagende Krankenhaus rechnete gegenüber der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung – neben Notfallpauschalen – zahlreiche Laborleistungen ab, die von den in der dortigen Notfallambulanz diensttuenden Ärztinnen und Ärzten angefordert wurden. Die Beklagte strich diese Laborleistungen nach § 106d Abs. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) mit der Begründung, diese seien im Notfalldienst bzw. bei der Notfallbehandlung nicht abrechnungsfähig. Im Rahmen des Gerichtsverfahrens gab die Klägerin erstmals eine medizinische Begründung der Durchführung dieser Laborleistungen durch die Bildung von Fall- und Diagnosegruppen ab (unter Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 26.06.2019, B 6 KA 68/17 R).
c. Entscheidung
Das Sozialgericht wies die Klage ab. Wegen des Ausnahmecharakters notwendiger Laborleistungen des Kapitels 32 des EBM in der Notfallambulanz müssten die maßgeblichen medizinischen Diagnosen im Rahmen der Abrechnungsprüfung erkennbar sein. Die medizinische Notwendigkeit habe von der Klägerin zwar auch noch im Gerichtsverfahren substantiiert dargelegt werden können. Eine Rechtsgrundlage für eine Begründungspflicht bereits bei der Honorarabrechnung und damit eine Präklusion im Klageverfahren habe nicht bestanden. Jedoch genüge die von der Klägerin vorgenommene Einteilung der Ziffern in Diagnosegruppen mit allgemein-abstrakter Begründung nicht. Für das Sozialgericht war die Notwendigkeit der jeweiligen Laborleistungen in den einzelnen Fallgruppen nach wie vor nicht ersichtlich.
4. Urteil vom 19.12.2024, S 5 KA 4566/20 (Berufung anhängig)
a. Leitsatz
Für den Fall des § 15 Abs. 3 Satz 2 Anl. 9.1 BMV-Ä in der seit dem 01.07.2018 geltenden Fassung, dass die Abrechnung der nichtärztlichen Dialyseleistungen durch einen Vertragspartner nach § 126 Abs. 3 SGB V über die Kassenärztliche Vereinigung erfolgt, weil die Partner der Gesamtverträge nichts anderes vereinbart haben, fehlt es der Kassenärztlichen Vereinigung an einer Rechtsgrundlage für die Festsetzung der allgemeinen Verwaltungskosten von 2,54 % gem. ihrer Satzungsbestimmung gegenüber nichtärztlichen Dialyseeinrichtungen i.S.d. § 126 Abs. 3 SGB V ohne gemeinnützigen Träger.
b. Sachverhalt
Die Klägerin betreibt als GmbH Dialyse-Einrichtungen, insbesondere ambulante (regionale) Dialyse-Zentren, u.a. auch in Baden-Württemberg. Die Gesellschaft selbst übt keine ärztliche Heilbehandlung aus und erbringt nichtärztliche Dialyseleistungen im Sinne des § 126 Abs. 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Ab 01.07.2018 setzte die Beklagte von den Honoraren für die von der Klägerin abgerechneten Dialyse-Sachkosten – anstatt 0,2 – nun die allgemeinen Verwaltungskosten i.H.v.2,57 % ab. Dagegen legte die Klägerin erfolglos Widerspruch ein und monierte die Erhebung allgemeine Verwaltungskosten von mehr als 0,2 %. Mit ihrer Klage wandte sich die Klägerin gegen die Absetzung von Verwaltungskosten. Dafür bestehe nach Änderung des § 15 Abs. 3 Anl. 9.1 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) zum 01.07.2018 keine Rechtsgrundlage. Die beklagte Kassenärztliche Vereinigung ist der Auffassung, dass der in § 15 Abs. 3 Anl. 9.1 BMV-Ä geregelte Verwaltungskostenersatz von 0,2 % nur noch für nichtärztliche gemeinnützige Dialyseeinrichtungen gelte. Für einen verminderten Verwaltungskostensatz für nichtärztliche und nicht gemeinnützige Dialyseeinrichtungen wie die Klägerin existiere keine Rechtsgrundlage.
c. Entscheidung
Die Kammer gab der Klage teilweise statt, soweit die Beklagte Verwaltungskosten von mehr als 0,2 % festgesetzt hat. Die Klage sei betreffend die Festsetzung von Verwaltungskosten i.H.v. 0,2 % unbegründet, da die Honorarbescheide insoweit bindend seien. Denn die Klägerin habe ihren Widerspruch auf die Anfechtung der Festsetzung von Verwaltungskosten, die über 0,2 % hinausgehen, beschränkt.
Im Übrigen hatte die Klage Erfolg. Die Beklagte habe rechtswidrig gegen die Klägerin Verwaltungskosten von mehr als 0,2 % festgesetzt. Der Beklagten fehle es dafür an einer Rechtsgrundlage. Die Beklagte könne sich nicht auf ihre Satzungsreglung zur Erhebung von Verwaltungskosten stützen, weil die Klägerin als Erbringer nichtärztlicher Dialyseleistungen i.S.d. § 126 Abs. 3 SGB V nicht zum Kreis der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Akteure i.S.d. § 77 Abs. 3 SGB V gehöre und daher von vornherein nicht der Satzungshoheit der Beklagten unterliege. Auch § 15 Abs. 3 Anlage 9.1 BMV-Ä bilde keine Rechtsgrundlage für die Festsetzung über 0,2 % hinausgehende Verwaltungskosten. Dies hätte durch die Gesamtvertragspartner geregelt werden können. Schließlich könne sich die Beklagte nicht auf einen allgemeinen Rechtsgrundsatz berufen, der ihr die Befugnis gebe, ein Nichtmitglied ihrer Satzungshoheit zu unterwerfen und von diesem die satzungsmäßigen allgemeinen Verwaltungskosten zu erheben. Denn § 126 Abs. 3 SGB V ordne die durch nichtärztliche Leistungserbringer erbrachten nichtärztlichen Dialyseleistungen gerade nicht der vertragsärztlichen Versorgung zu.